Schweden und der Fall Kenes In Erdogans Fadenkreuz
Die Türkei fordert von Schweden die Auslieferung des geflüchteten Journalisten Kenes. Dieser ist damit zum Faustpfand im Ringen um den NATO-Beitritt Schwedens geworden. Wer ist der Mann, den Erdogan unbedingt vor Gericht sehen will?
Es ist der 8. November. Bülent Kenes sitzt mit seiner Familie beim Abendessen, zuhause in Åkersberga, einem Vorort nordöstlich von Stockholm. Der Tisch ist gedeckt. Im Fernsehen läuft die Pressekonferenz des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan anlässlich des Antrittsbesuchs des neuen schwedischen Ministerpräsidenten Ulf Kristersson.
Die Pressekonferenz ist fast schon vorbei, da stellt ein türkischer Journalist noch eine letzte Frage. Dann sagt Erdogan diesen einen Satz.
Ich werde nun von einer Person in Schweden den Namen nennen: Bülent Kenes, ein Terrorist. Nur ein Beispiel. Aber es ist für uns sehr wichtig, dass er an die Türkei ausgeliefert wird.
Für die Familie ein Schock
Damit ist ausgesprochen, was Kenes schon länger wusste. Sein Name steht auf einer Liste, die Erdogan der schwedischen Regierung überreicht hat. Mehr als 70 Personen, von denen der türkische Präsident die Auslieferung fordert.
Seinen Namen während der Pressekonferenz zu hören, sei für seine Frau und ihre beiden Kinder ein "Schock" gewesen, erzählt Kenes - für ihn selbst aber nicht. Denn, erläuterte der Journalist in einem Interview mit dem schwedischen Fernsehen: "Ich erwarte nichts und alles von einem Despoten wie Erdogan."
Seine Aufenthaltsberechtigung in Schweden ist nicht dauerhaft. Wird ihn die neue schwedische Regierung ausliefern, um die Zustimmung zum NATO-Beitritt zu bekommen?
Bereits 2015 kurz inhaftiert
Kenes ist Mitbegründer des "Stockholm Center for Freedom", einer Organisation, die sich unter anderem für verfolgte Journalisten in der Türkei einsetzt. Außerdem lehrt er am "European Center for Populism Studies" in Brüssel.
Kenes hat für verschiedene Medien gearbeitet, war Büroleiter der türkischen Nachrichtenagentur Anadolu in New York und lange Chefredakteur der englischsprachigen Zeitung "Today’s Zaman". Schon 2015 saß er kurzzeitig in Haft.
Flucht über Athen
Aber erst im Juli 2016 wird es zu gefährlich für ihn im Land. Denn nach dem gescheiterten Putsch von Teilen des Militärs lässt Erdogan hart durchgreifen.
Der türkische Präsident beschuldigt die Gülen-Bewegung, für den Putsch verantwortlich zu sein. Gülen ist ein islamistisches Netzwerk, das weltweit mehr als vier Millionen Mitglieder haben soll. Die Zeitung, für die Kenes gerarbeitet hat, soll Gülen nahegestanden haben und wird verboten.
Auch die Universität, an der Kenes gelehrt hat, muss schließen. Kenes ist Mitte vierzig und beschließt, über Athen ins Exil nach Schweden zu fliehen. In seiner Heimat drohen ihm inzwischen mehrere langjährige Haftstrafen.
"Ich habe nichts mit dem Putsch zu tun"
Er sei kein Mitglied von Gülen, sagt Kenes heute. Dass er selbst etwas mit dem Putsch von 2016 zu tun gehabt haben soll, weist er im Interview mit dem schwedischen Fernsehen von sich.
Wenn er wirklich den Putschisten angehört hätte, wäre er "doch nicht so dumm" und würde sich derart in der Öffentlichkeit exponieren. Nein, bekräftigt Kenes, "ich habe nichts mit dem Putsch zu tun".
Recherchen im Umfeld des Präsidenten
Kenes wirft Erdogan vor, ihn nur deshalb zu verfolgen, weil er als Journalist kritisch über ihn berichtet habe. Bülent hat mehrere Korruputionsskandale aus dem Umfeld des Präsidenten aufgedeckt. Und er kritisierte öffentlich die brutale Niederschlagung der Gezi-Proteste 2013.
Trotzdem hat er nicht damit gerechnet, zur Schlüsselfigur in einem diplomatischen Tauziehen zwischen der Türkei und Schweden zu werden. Zwar sei er ein kritischer Journalist und Erdogan ein "Despot" - insofern sei Erdogans Schritt wenig überraschend. Und doch frage er sich, sagt Kenes: "Warum hat er gerade meinen Namen genannt?"
Ein menschliches Faustpfand
Denn Kenes weiß auch: Erdogan hat ihn damit praktisch öffentlich zur Fahndung ausgeschrieben. Von dieser Forderung kann er kaum abrücken, ohne sein Gesicht zu verlieren. Er ist zum Spielball der Politik geworden.
Er mache sich Sorgen angesichts der Verhandlungen der neuen schwedischen Regierung mit dem "islam-faschistischen und autoritären Erdogan-Regime", sagt der Journalist. "Das beunruhigt mich mehr als die Drohungen und Einschüchterungsversuche."
Was bleibt? Die Hoffnung auf den Rechtsstaat
Kenes hat keine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung in Schweden, er muss daher auf den schwedischen Rechtsstaat vertrauen.
Vor ein paar Tagen berichtete ein junger Reporter des türkischen Staatsfernsehens ganz im Sinne von Erdogan aus Stockholm über seinen Fall. Kenes reagierte auf seine Weise. Er twitterte: "Wenn Du Journalismus machen willst, ruf mich an, trink einen Tee mit mir und stell Deine Fragen. Nur mein Haus aus der Ferne zu filmen - das ist kein Journalismus", ließ er den jungen Journalisten wissen.