HDP-Politiker Demirtas "Erdogan wird durch Wahlen gehen"
Seit fast sieben Jahren sitzt der ehemalige Co-Chef der pro-kurdischen Partei HDP, Demirtas, im Gefängnis. Gegen ihn laufen zahlreiche Verfahren, ihm droht eine lange Haft. In einem Interview bekräftigt er seine Hoffnung auf Wandel durch Wahlen in der Türkei.
Von Fulya Cansen
Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan wollte an diesem Wochenende nach Berlin reisen. Nun wurde der Besuch kurzfristig abgesagt. Die Reise war umstritten, denn sie wäre vermutlich der Startschuss für seine Wahlkampagne in der Türkei gewesen. Währenddessen meldet sich einer seiner politischen Gegner aus dem Gefängnis.
Ein Grund für die Absage könnte ein Video des Abgeordneten der Regierungspartei AKP, Mustafa Acikgöz, sein. Er hatte es diesen Monat auf Twitter veröffentlicht. Auf einer Veranstaltung in einer Moschee in Neuss hatte er die Anhänger seiner Partei in Deutschland mit radikalen Aussagen auf die anstehenden Wahlen in der Türkei eingeschworen und Kurden und Regimegegnern mit "Vernichtung" gedroht.
Diplomatische Folgen
Nach dem Vorfall wurde der türkische Botschafter in das Außenministerium in Berlin einberufen. Nach Medienberichten gab es danach Unstimmigkeiten in der Vorbereitung des Besuchs Erdogans. Angeblich habe die Bundesregierung bei dem Treffen die Rede Acikgöz' öffentlich kritisieren wollen.
Der Besuch in Deutschland wäre für Erdogan wichtig gewesen. Er ist auf die Unterstützung der rund 1,4 Millionen türkischen Wähler in Deutschland angewiesen. Jüngste Umfragen sehen die AKP und ihre Partner zwar vor dem größten Oppositionsbündnis, aber noch deutlich von einer Mehrheit im Parlament entfernt.
Die türkischen Wähler in Deutschland könnten somit eine entscheidende Rolle für den Wahlausgang spielen. Bei der Präsidentschaftswahl 2018 hatten zwei Drittel der Türken in Deutschland Erdogan gewählt.
Interview aus Gefängnis
Erdogan möchte den Sieg mit allen Mitteln und versucht immer wieder, seine politischen Gegner mundtot zu machen. So sitzt Selahattin Demirtas, ehemaliger Co-Vorsitzender der pro-kurdischen Partei HDP, seit fast sieben Jahren im Gefängnis.
Die kurdische und türkische Redaktion von WDR Cosmo konnte nun das erste Interview führen, das Demirtas seit seiner Inhaftierung ausländischen Medien in dieser Form gegeben hat. Der Ablauf war kompliziert und zog sich über mehrere Jahre hin. 13 Journalisten und Prominente konnten ihre Fragen stellen, die über den Pressesprecher und die Anwälte ins Gefängnis getragen wurden.
Auf ähnlichem Weg kamen die Antworten des Politikers schriftlich zurück. Unter den Fragestellern waren der Filmemacher Fatih Akin, die Journalistinnen und Journalisten Navid Kermani, Günter Wallraff, Dunja Hayali und Sven Lorig, sowie der Autor Can Dündar.
"Es gibt immer noch Millionen Menschen, die Widerstand leisten"
In dem Interview antwortet Demirtas auf die Frage von Can Dündar über eine mögliche Zeit nach Erdogan, dass er in Wahlen die einzige Möglichkeit für einen Machtwechsel sehe: "Die Trümmer in der Türkei werden nicht sofort am Morgen der Wahlen verschwinden, das ist eine Tatsache. Aber wenn wir irgendwo anfangen müssen, dann bei den Wahlen", schreibt der Politiker.
Er blicke hoffnungsvoll in die Zukunft, denn es gebe "immer noch Millionen von Menschen, die entschlossen Widerstand leisten, Kurden, Türken, Aleviten, Sunniten und vor allem junge Menschen und Frauen", so Demirtas.
Der HDP-Politiker gibt sich in seinen Antworten aus dem Gefängnis überraschend positiv und optimistisch. Er versuche, seinen zwei Kindern, die ohne ihn aufwachsen müssen, Hoffnung zu geben, indem er aufrecht stehe und sich gegen jede Art von Ungerechtigkeit wehre, schreibt er.
"Ich gebe nicht nach, egal was sie tun, ich bitte nicht um Vergebung für Verbrechen, die mir vorgeworfen werden. Im Gegenteil, ich klage an, so überlebe ich."
Demirtas trat bei der Präsidentschaftswahl 2014 als einer von drei Kandidaten gegen Erdogan an. Ihm wird "Terrorismus" vorgeworfen; immer wieder gibt es neue Verfahren gegen ihn. Im noch laufenden Hauptverfahren drohen dem Oppositionspolitiker bis zu 142 Jahre Gefängnis.
Weitere Verfahren drohen
Deshalb muss Demirtas seine Worte genau abwägen. Der türkische Justizminister erklärte vor kurzem öffentlich, dass er nach Wegen suche, Demirtas auch in den sozialen Medien zum Schweigen zu bringen. Da die AKP-Regierung auch die Stimmen der Kurden braucht, dürften die Reaktionen aktuell aber vielleicht nicht so hart ausfallen wie sonst.
Ans Aufgeben habe Demirtas nach eigenen Angaben "keine Sekunde" gedacht. Der Moderatorin Dunja Hayali schreibt er: "Schuldig zu sein ist schlimmer als unschuldig im Gefängnis zu sitzen, weil man ein reines Gewissen hat. Ich habe hier zum Beispiel keinerlei Albträume, ich wache immer mit angenehmen Träumen auf. Die Albträume haben nur diejenigen, die mich und die anderen unschuldig ins Gefängnis gebracht haben."
Demirtas blickt mit Spannung auf die Wahlen. Bei einem Machtwechsel kann er auf eine Entlassung aus dem Gefängnis hoffen. "Erdogan kam durch Wahlen an die Macht und wird durch Wahlen gehen, es gibt keine andere Möglichkeit", schreibt er aus seiner Gefängniszelle.