Switosar Moisejew führt den thailändischen Studenten Ethan durch die Kiewer Vororte.
reportage

Kriegstourismus in der Ukraine Auf den Spuren russischer Gräueltaten 

Stand: 31.08.2024 06:00 Uhr

Es sind Rundgänge wider das Vergessen und die Verharmlosung: In Kiewer Vororten führen Tourguides zu den Schauplätzen russischer Kriegsverbrechen. Manche Besucher kommen auch, um Lehren für ihr eigenes Land zu ziehen.

Von Niels Bula, ARD Kiew

Switosar Moisejew führt durch ein Treppenhaus im Kiewer Vorort Borodjanka. Überall auf dem Boden verteilt liegen Trümmerteile und Scherben. 2022 wurde dieses Wohnhaus bei einem russischen Angriff schwer beschädigt. In den Fenstern des vierstöckigen Blocks fehlen die Scheiben, an der Außenfassade sind schwarze Brandspuren sichtbar. Heute kommen vor allem Obdachlose und spielende Kinder in die Ruine. 

Und es kommen Menschen wie Moisejew. Der 40-Jährige bietet Touren an. Mit ihm als Stadtführer können sich Besucher auf die Spuren des Krieges begeben. "Hier siehst du Schuhe rumliegen, und die Tapete ist noch an der Wand", sagt er und zeigt in eine Ecke eines Raumes. "Dort sind Teile vom Bett, die Matratze, auf der die Menschen geschlafen haben, und Geschirr."

Zum ersten Mal im Kriegsgebiet

Seine Führung macht er heute für Ethan, einen 22-jährigen Studenten aus Taiwan. Ethan ist zum ersten Mal in der Ukraine, zum ersten Mal in einem Kriegsgebiet. "Ob ich Angst habe? Ja, vielleicht ein bisschen", gibt er zu. Aber schließlich sei Kiew momentan sicher im Vergleich zur Ostukraine. "Ich glaube, das ist o.k. für mich."

Die ukrainische Hauptstadt liegt Hunderte Kilometer entfernt von der Front im Osten und Süden des Landes. Luftangriffe gibt es hier trotzdem regelmäßig. Doch Kiew ist vergleichsweise gut geschützt.

Ethan hat trotzdem kaum jemandem zu Hause davon erzählt, dass er hierher kommt. Nur ein paar enge Freunde wissen Bescheid. Seine Eltern wissen nichts, sie sollen sich keine Sorgen machen.

Switosar Moisejew führt den thailändischen Studenten Ethan durch die Kiewer Vororte.

Die Führung durch die Kiewer Vororte ist schmerzhaft, doch der Gast aus Taiwan erhofft sich davon auch Erkenntnisse für sein eigenes Land.

Die Spuren der Verbrechen mit eigenen Augen sehen

Switosar fährt den taiwanischen Studenten durch die Kiewer Vorstädte. Borodjanka, Butscha, Irpin und Hostomel - alle Orte sind weltweit aus den Nachrichten bekannt. Ihre Namen sind Synonyme für russische Kriegsverbrechen. In den ersten Tagen der Großinvasion starben hier viele Zivilisten durch die heftigen Angriffe und später Hunderte während der zeitweisen russischen Besatzung. Viele der nach dem Abzug der russischen Truppen gefundenen Leichen wiesen Spuren von Folter auf. 

"Die Nachrichten in Taiwan haben sich nicht so sehr mit dem Krieg beschäftigt und damit, wie die Ukraine Widerstand gegen Russland leistet", sagt Ethan. "Ich bin hierhergekommen, weil ich sehen will, was die taiwanischen Journalisten uns nicht erzählt haben." Er befürchtet, dass Taiwan in eine ähnliche Lage wie die Ukraine geraten könnte und auch seine Heimat angegriffen wird. 

"Wir haben einen schlechten Nachbarn", sagt Ethan und meint damit China. Er hoffe nicht, dass sein Land von China angegriffen wird, aber man müsse sich darauf vorbereiten. "Es ist deshalb wichtig für uns, mehr über diesen Krieg zu erfahren."

Kaum noch Besucher aus dem Ausland

Ethan ist einer von wenigen Menschen, die aktuell in die Ukraine reisen. Allein der Weg hierher ist schon kompliziert und dauert lange. Flugzeuge fliegen nicht, in die Ukraine geht es nur mit dem Zug, Bus oder Auto.

Marina Radowa, die Leiterin der Kiewer Tourismusbehörde, spricht von 800.000 Touristen, die in diesem Jahr bisher in der Ukraine gezählt wurden. Die Zahl schließt einheimische und ausländische Touristen ein. 

Eine Statistik nur zu Besuchern aus dem Ausland gebe es derzeit nicht. "Vor dem Krieg waren es jedes Jahr allein aus dem Ausland zwei Millionen Touristen nur in Kiew", sagt sie. "Die meisten Ausländer, die jetzt hierher kommen, sind offizielle Delegationen, Medienvertreter und freiwillige Kämpfer und Helfer." Nur ein gewisser Prozentsatz davon seien Individualtouristen.

Auch Tourguide Switosar merkt, wie stark die Anzahl der Touristen aus dem Ausland seit Beginn der russischen Großinvasion zurückgegangen ist. Jetzt kamen 90 Prozent weniger. Seit zehn Jahren ist er schon im Tourismusgeschäft, führt Besucher durch die historische Innenstadt von Kiew.

Auf die Idee mit den Exkursionen in die Vororte kam er, nachdem dort die russischen Besatzer abgezogen waren. Er will die Besucher über die Ereignisse aufklären. Die Hälfte seiner Einnahmen spendet er an die ukrainische Armee.

In vielen Straßen erinnert schon nichts mehr an die Gräuel

"Es ist einfach wichtig, inmitten dieser Ruinen zu sein und es einfach mit eigenen Augen zu sehen. Es riecht hier gerade zu nach Tragödie", erzählt er. Das hier sei kein YouTube, hier könnten die Gäste spüren, dass es um reale Häuser und Leben geht.

Beispiel Butscha. Als die russischen Besatzer im  Frühjahr 2022 den Vorort verlassen hatten, kamen ihre Gräueltaten ans Licht. Auf der Straße, die Switosar heute entlangfährt, lagen damals Leichen unter freiem Himmel. In manchen Teilen des Kiewer Vorortes wurden nahezu alle Gebäude vollkommen zerstört.

Inzwischen wurden viele Häuser wieder aufgebaut. In vielen Straßen erinnert kaum noch etwas an das Grauen, was die Menschen hier damals erlebt haben. 

Schmerzhafte Erinnerungsarbeit

Doch gibt es noch an einigen Stellen Spuren, die von den Verbrechen zeugen. Switosar zeigt ein Beispiel in einem zunächst unscheinbar aussehenden Hinterhof. An der Rückseite eines Hauses bleibt er stehen. An der Wand ist ein Graffiti von einer knienden Frau, die die Hände zum Gebet faltet.

Daneben hängen Fotos von acht Männern verschiedenen Alters. Sie alle wurden ermordet, weil sie eine Barrikade gegen die anrückenden russischen Truppen errichtet hatten. Gefunden wurden ihre Körper mit auf dem Rücken gefesselten Händen.

"Hierhin wurden sie eskortiert, in diesen Hinterhof. Sie wurden genau hier hingerichtet", erzählt der Touristenführer. Er zeigt auf die Treppenstufen. Dort ist noch zu sehen, wo die Kalaschnikow-Patronen eingeschlagen sind, als die Männer erschossen wurden.

Auch Switosar selbst geht das nahe, obwohl er schon dutzende Male diese Geschichte erzählt hat. "Ich will ehrlich sein: Eine Tour im Zentrum von Kiew zum Höhlenkloster ist mir lieber." Das hier sei eine wichtige Arbeit, aber auch sehr schmerzhaft.

In einem Hinterhof in Butscha wird acht Männer gedacht, die hier von der russischen Armee getötet wurden.

Erinnerungsort im Hinterhof: Die Gräueltaten von Butscha sind zu einem Symbol für die Verbrechen geworden, die die russischen Truppen in der Ukraine begangen haben.

Auch die Einheimischen mussten sich an die Touren gewöhnen

Die meisten seiner Gäste kommen aus den USA, Großbritannien und Deutschland. Mancher von ihnen sei vielleicht auch ein Sensationstourist, der hier den Nervenkitzel sucht, gibt er zu.

"Ganz am Anfang waren einige Einheimische ein bisschen verärgert, als sie die Touristen sahen, die ihre Nase aus dem Autofenster steckten und Fotos machten", erzählt Switosar. Die Bewohner seien damals noch traumatisiert gewesen.

Später hätten sie aber verstanden, dass die Touren Aufmerksamkeit auf ihre Orte und ihr Schicksal lenken. Und dass das dabei helfe, Spenden zu sammeln, um die Vorstädte wieder aufzubauen.

Eine zerstörte Brücke in Irpin.

Ein Symbol des ukrainischen Widerstandsgeistes: die zerstörte Brücke im Kiewer Vorort Irpin, die gesprengt wurde, um den russischen Vormarsch zu stoppen.

"Das ist wirklich sehr traurig"

Ethan aus Taiwan wirkt nicht so, als würde er hier ein Abenteuer suchen. Ruhig und mit ernster Miene folgt er den Erzählungen von Switosar, als er durch die Ruine in Borodjanka läuft, in der einmal Menschen gelebt haben. Er ringt um Worte, als er über seine Eindrücke spricht.

"Das ist wirklich unglaublich. Ich muss sagen, es ist das erste Mal, dass ich so etwas mit eigenen Augen sehe", sagt der taiwanische Student. "Man kann sich vorstellen, dass hier in dem Haus mal Familien mit Kindern gelebt haben. Dann sind sie Flüchtlinge geworden und mussten ihre Heimat verlassen. Das ist wirklich sehr traurig."

Niels Bula, ARD Kiew, tagesschau, 29.08.2024 15:24 Uhr