Ein Eisenbahnmitarbeiter hilft einer älteren Frau in einen Zug
reportage

Evakuierung aus Pokrowsk Mit Wut und Tränen in eine ungewisse Zukunft

Stand: 29.08.2024 05:09 Uhr

Bis auf wenige Kilometer ist die russische Armee an die ostukrainische Stadt Pokrowsk herangerückt. Viele Menschen folgen der Evakuierungsaufforderung und besteigen einen der Züge Richtung Westen. Doch einige wollen bleiben.

Von Andrea Beer, ARD Kiew, zzt. Pokrowsk

Der blau-gelbe Zug rollt schon, als die kleine alte Dame völlig außer Atem auf Gleis eins gelaufen kommt. Ein Eisenbahnmitarbeiter packt sie kurzerhand und hievt sie samt ihrer grauen Tasche noch in den fahrenden Zug. Einmal am Tag um 14:10 Uhr fährt ein Zug zurzeit von Pokrowsk im Gebiet Donezk los in Richtung Westen - nach Dnipro, Rivne oder Lwiw nahe der polnischen Grenze. Freunde, Bekannte und Verwandte verabschieden sich am Bahnsteig voneinander und oft fließen Tränen.

Auch Larissa Tenokop macht trotz dunkler Sonnenbrille ein erkennbar ernstes Gesicht. Sie zieht mit Tochter und zwei Enkeln vorerst nach Dnipro, doch ihr Ehemann bleibt zurück. "Hier ist es nicht gefährlich", brummt dieser und schaut um Selbstbeherrschung bemüht den Bahnsteig entlang, während seiner Frau die Tränen in die Augen schießen, denn das ist die Untertreibung des Jahres.

Menschen in Pokrowsk bereiten sich auf ihre Evakuierung vor

Diese beiden Frauen haben das Nötigste für die Evakuierung zusammengepackt.

Russische Aufklärungsdrohnen über Pokrowsk

Pokrowsk und die umliegenden Orte sind im vorrangigen Visier der russischen Invasoren. Tag und Nacht drohen Angriffe mit Drohnen und Raketen; von der nahen Front sind dumpfe Explosionen zu hören. Bis auf wenige Kilometer ist die russische Armee inzwischen an Pokrowsk herangerückt. Längst liegt die Zechenstadt in Reichweite russischer Artillerie und Moskaus Aufklärungsdrohnen fliegen bereits über Pokrowsk und einem Teil der Region.

Die ukrainische Armee rüstet sich erkennbar zur Verteidigung, denn der Kampf um den äußerst wichtigen logistischen Knotenpunkt Pokrowsk wird bald beginnen.

Ältere Menschen möchten oft bleiben

"Es geht noch", gibt sich Iryna überzeugt. Sie verkauft auf einem kleinen Markt süße Weintrauben aus Eigenproduktion und ist wild entschlossen zu bleiben. Woanders brauche sie niemand, formuliert sie, was vor allem ältere Menschen in Gesprächen sagen. Die magere staatliche Unterstützung für Binnenvertriebene, teure Mieten in Odessa, Dnipro oder Kiew statt des eigenen Häuschens mit einem Garten, dessen Ernte die schmale Rente erträglich macht. All das seien Gründe zu bleiben.

Das unterstreicht auch die Verkäuferin an dem kleinen Brotstand nebenan. Sie wurde aus dem russisch besetzten Marjinka vertrieben und möchte auf keinen Fall wieder neu anfangen müssen. Doch es wird eng. Viele Geschäfte haben geschlossen und Ende der Woche machen die Banken zu und es gibt nur noch Geldautomaten.

Evakuierungen in der ostukrainischen Stadt Pokrowsk nach Vormarsch Russlands

Birgit Virnich, ARD Kiew, tagesthemen, 28.08.2024 22:15 Uhr

48.000 Zivilisten nach wie vor in der Region

Seit Anfang August appellieren die Behörden an die Bewohnerinnen und Bewohner, die Region Pokrowsk zu verlassen. In Pokrowsk fährt die Polizei durch die Straßen und ruft über Lautsprecher zur Evakuierung auf. Mehr als 48.000 Menschen sind nach Angaben der regionalen Militärverwaltung in der Region geblieben, unter ihnen mehr als 2.800 Kinder.

Dabei müssen diese in Sicherheit gebracht werden, das haben die Behörden längst angeordnet. In Pokrowsk wurde die Sperrstunde stark verschärft und die Menschen dürfen ihr bedrohtes Zuhause nur zwischen 11 und 15 Uhr verlassen. Zeiten, in denen es vor der Post lange Schlangen gibt, denn viele schicken ihr Eigentum in großen Paketen in sichere Gebiete.

Ein älterer Mann steht vor Kisten mit Gemüse.

Die meisten Geschäfte in Pokrowsk haben bereits geschlossen, die Menschen kaufen deshalb zunehmend auf der Straße. Ende der Woche machen auch die Banken zu.

"Sie hätten lieber Donezk verteidigen sollen"

Bei der Evakuierung helfen Militär, Polizei und viele Freiwilligenorganisationen vor allem alten, nicht mobilen oder armen Menschen, die alleine nicht dazu in der Lage wären. Mit Hilfe der Freiwilligen von "Ukraine im Herzen" bringt auch Serhij an diesem Tag seinen knapp dreijährigen Sohn Sascha und die alten Eltern nach Saporischschija. Den ukrainischen Vorstoß ins russische Grenzgebiet Kursk sieht der 38-Jährige kritisch: "Das hätte unsere Armee nicht machen sollen. Besser sie hätten uns verteidigt."

Evakuierung bedeutet Suche nach Arbeit und Wohnung

Serhij ist Bergmann und will vorerst bleiben, denn die Zeche in Pokrowsk arbeitet noch und sein Einkommen wird dringend gebraucht, ein Grund für viele Zechenbeschäftigte zu bleiben. Doch auch diese wird angesichts der Lage wohl bald geschlossen werden müssen.

Geld ist für alle ein Riesenthema, denn eine Evakuierung bedeutet unter anderem eine Wohnung und eine Arbeit zu suchen in einer wirtschaftlich schwierigen Lage. Doch auch für die Rentnerin Svetlana ist Geld ein Thema. Nach 36 Jahren bei den Wasserwerken und hat sie umgerechnet knapp 100 Euro Rente. Ihr erwachsener Sohn sitzt im Rollstuhl und wird gerade in den Evakuierungsbus der Organisation SOS Donbas gehoben, während die alte Dame die letzten Minuten im eigenen Hof zu genießen versucht.

Wer Geld habe, könne den Umzug in ein sicheres Gebiet selbst organisieren und alles mitnehmen, sie könne das nicht, bedauert die 73-Jährige. "Wir haben nur zwei Taschen. Keine Kleidung und auch nichts, worauf wir unseren Kopf legen können und nicht einmal eine Decke zum Zudecken."

Die alte Dame im dünnen Sommerkleid verlässt den Ort, der jahrzehntelang ihr Zuhause war, schweren Herzens. Doch der russische Beschuss sei einfach zu stark geworden und unter Besatzung wolle sie keinesfalls leben, betont sie. Sie hat Bekannte in Norwegen und will dort neu anfangen.

Karte der Ukraine mit Pokrowsk, schraffiert: von Russland besetzte Gebiete

"Mama jetzt komm doch"

Auf dem Bahnhof von Pokrowsk steigen die letzten Passagiere in die Waggons, die für die Evakuierungen reserviert sind. "Mama jetzt komm doch", brüllt eine dunkelhaarige junge Frau nervös und zerrt ihren kleinen Sohn den Bahnsteig entlang. Die Nerven liegen blank und ihr Begleiter tritt wütend auf seinen Rucksack, bevor er sich wieder sammeln und einsteigen kann.

Der russische Angriff auf die Ukraine begann 2014 in den Gebieten Luhansk und Donezk, und viele Menschen aus diesen Regionen sind seitdem mehr als einmal durch russische Angriffe vertrieben worden. Nun müssen sich die Bewohner aus Stadt und Region Pokrowsk in Sicherheit bringen, und noch fährt jeden Tag ein blau-gelber Zug um 14:10 Uhr von Gleis eins.