Krieg in der Ukraine Ukrainische Fußball-Ultras - vereint an der Front
Ukrainische Fußballvereine waren berüchtigt für ihre Hooligan-Szene. Dann überfiel Russland das Land - und die Fans schlossen Burgfrieden. Viele von ihnen sind heute Soldaten. Verfolgen sie die EM?
Charkiw 2014: Rivalisierende Fußballfans marschieren gemeinsam durch die Innenstadt - auf ihrem Banner steht "Vereinte Ukraine", sie rufen wüste Beleidigungen gegen den russischen Machthaber Putin. Dahinter zünden sie Pyrotechnik in den ukrainischen Landesfarben Blau und Gelb. Es waren die Ultras rivalisierender Klubs, die sich an diesem Tag zusammengetan hatten. Ein historischer Moment für die ukrainische Fanszene - der kein Einzelfall war.
Die Gewalt des beginnenden Krieges beendete die Gewalt zwischen verfeindeten Fangruppen, erklärt der Journalist Ingo Petz: "Das Land befand sich in einer wahnsinnig schwierigen Situation: die Annexion der Krim, der Beginn der ersten Unruhen, auch bewaffneten Zusammenstöße. Und da machte es natürlich keinen Sinn, die Fußballrivalität weiter auszutragen."
Die Fans hätten sich zusammengeschlossen, um ihr Land in der schwierigen Situation zu unterstützen: "Einerseits sind die Leute eben selbst in den Kampf gezogen, in die Freiwilligenbataillone. Andererseits haben sie Hilfsnetzwerke für die Freiwilligenbataillone geschaffen."
Maskierte ukrainische Nationalisten, die durch die Städte marschieren: Seit 2014 ein vertrauter Anblick.
"Wir brauchen zuerst einen Sieg"
Auch Oleksandr schloss sich damals einem Freiwilligenbataillon an, nachdem er schon während der Revolution auf dem Maidan Protestierende vor den Schlägertrupps des damaligen Präsidenten geschützt hatte. Der heute 30-Jährige heißt eigentlich anders. Aber weil er noch immer in der Armee kämpft, möchte er anonym bleiben.
Oleksandr gehört zu den Ultras von Dynamo Kiew. Wann er zuletzt ein Spiel im Stadion gesehen hat - daran kann sich der hagere Mann mit den bunten Tätowierungen kaum erinnern. "In gewisser Weise vermisse ich den Fußball. Natürlich wünsche ich mir, ich könnte alles zurückdrehen. Aber jetzt ist leider nicht die Zeit, in der wir uns dem widmen können, was wir lieben", sagt er. Fußball sei jetzt weit weg: "Wir brauchen zuerst einen Sieg und dann Fußball."
Ein Soldat verfolgt das EM-Spiel der Ukraine gegen Rumänien in einem vom Militär genutzten Haus im Raum Donezk.
Unterstützer der Asowstal-Kämpfer
Als Russland die Ukraine im Februar 2022 überfiel, hatte Oleksandr eine Idee: Zusammen mit Anhängern anderer Vereine nehmen er und seine Freunde ein Video auf. Es zeigt die Männer vermummt und mit Waffen in der Hand in der Dunkelheit, wie sie dazu aufrufen, sich den Kampfverbänden anzuschließen: "Es ist nicht das erste Mal, dass einheimische Ultras eine entscheidende Rolle für das Schicksal unseres Staates spielen können. Wir fordern alle ukrainischen Fans auf, sich in diesem entscheidenden Moment für die Verteidigung des Vaterlandes einzusetzen."
Oleksandr schließt sich mit seinen Ultra-Freunden von Dynamo Kiew der Territorialverteidigung an. Sie drängen die Russen nahe der Hauptstadt Kiew zurück und gehört dann zu einer kleinen Gruppe Soldaten, die sich per Hubschrauber in das eingekesselte Mariupol fliegen lassen.
Über den Fußball hatte er viele Freunde im Regiment Asow - die saßen nun im gleichnamigen Stahlwerk fest, ohne ausreichend Munition und umzingelt von russischen Truppen. Vier Kameraden, mit denen er damals im Flugzeug saß, seien gestorben, sagt er. "Ein großer Teil der Überlebenden ist bereits nach Hause zurückgekehrt. Aber leider sind einige immer noch in Gefangenschaft."
In russischer Kriegsgefangenschaft
Auch Oleksandr musste sich ergeben und wurde 13 Monate in russischer Kriegsgefangenschaft festgehalten. Er wolle sich nicht beklagen, sagt er. Die Folter beschreibt er als "minimal" - "nur ein paar Stromschläge". Und das Essen sei auch okay gewesen - zumindest habe er nicht gehungert. Kein Vergleich also mit denjenigen, die abgemagert und mit verdrehten und mehrfach gebrochenen Armen aus der Gefangenschaft entlassen wurden, sagt er selbst.
"Bei mir wird das für immer im Gedächtnis bleiben. Ich habe Flashbacks, das kommt einfach wieder, aber ich versuche, irgendwie im Hier und Jetzt zu leben", sagt er trotzdem.
Oleksandr ist heute wieder im Einsatz. Er kämpft Seite an Seite mit anderen Ultras - ehemaligen Rivalen oder politischen Gegnern. Oleksandr bezeichnet sich selbst als Nationalisten. In den Schützengräben im Osten und Süden des Landes kämpft er gemeinsam mit Linken gegen Russland.
Vor zehn Jahren haben die ukrainischen Ultras einen Waffenstillstand vereinbart, der Gewalt untereinander ein Ende gesetzt. Im Großen und Ganzen halte dieser innerukrainische Waffenstillstand bis heute an, sagt der Journalist Ingo Petz: Daran, was in der Fußballfanszene geschehe, lasse sich sehr viel an gesellschaftspolitischen Entwicklungen ablesen.
Das Turnier ist noch nicht vorbei
Und nach dem Krieg? "Ich will nicht sagen, dass ich mir wünsche, dass das so weitergeht, dass wir uns weiter gegenseitig aufs Maul hauen", sagt Oleksandr dazu. "So war es eben damals. Aber jetzt liegt der Fokus auf dem Krieg, auf dem Sieg. Egal für welchen Verein du bist, ob nun Lwiw oder Saporischschja. Wir alle haben ein Ziel: An der Front zu gewinnen."
Oleksandr muss in wenigen Tagen schon wieder in den nächsten Einsatz. Und obwohl der Krieg den Fußball aus seinem Leben verdrängt hat - das Spiel der ukrainischen Nationalelf will Oleksandr trotzdem gucken, um sich etwas abzulenken. Trotz des enttäuschenden Auftakts der ukrainischen Mannschaft sollten die Fans nicht gleich verzweifeln, sagt er. Das Turnier sei schließlich noch nicht vorbei.