Ukraine gedenkt des Holodomors Stilles Erinnern in Kriegszeiten
Inmitten des Kriegs hat die Ukraine an die Hungersnot Holodomor vor 90 Jahren erinnert. Ausgelöst von Sowjetdiktator Stalin starben damals Millionen von Menschen. Deutschland könnte das Verbrechen bald als Genozid anerkennen.
Inmitten des seit mehr als neun Monaten dauernden russischen Angriffskriegs hat die Ukraine der verheerenden Hungersnot Holodomor ("Mord durch Hunger") vor 90 Jahren gedacht. "Einst wollten sie uns durch Hunger zerstören, nun durch Dunkelheit und Kälte", schrieb Präsident Wolodymyr Selenskyj in seinem Telegram-Kanal mit Blick auf Russlands Angriffe auf die Energieinfrastruktur seines Landes.
In den Jahren 1932/33 hatte der damalige Sowjetdiktator Josef Stalin gezielt eine Hungersnot in der Ukraine herbeigeführt, den Holodomor. Viele Ukrainer und Ukrainerinnen wurden deportiert. Innerhalb von zwei Jahren kamen bis zu vier Millionen Menschen ums Leben. Tote gab es damals auch in anderen Teilen der Sowjetunion, etwa in Kasachstan und im Süden Russlands.
Ebenso wenig wie damals ließen sich die Ukrainer heute von den Russen brechen, betonte Selenskyj. "Wir werden den Tod erneut besiegen." Der Chef des ukrainischen Präsidentenbüros, Andrij Jermak, schrieb: "Die Russen werden für alle Opfer des Holodomor bezahlen und für die heutigen Verbrechen zur Verantwortung gezogen werden."
"Stilles Erinnern an dieses dunkle Kapitel"
ARD-Korrespondent Robert Kempe, der sich zur Zeit in Kiew befindet, berichtete, das Menschen am Mahnmal für die Opfer Blumen niederlegen und Kerzen anzünden werden. Aufgrund des Kriegsrechts seien größere Menschenansammlungen allerdings verboten. "Es wird eher ein stilles Erinnern sein an dieses dunkle Kapitel der ukrainischen Geschichte", sagte Kempe. Wenn es dunkel wird, sei es Tradition, Kerzen in das Fenster zu stellen, um an die Opfer der Hungersnot zu erinnern.
Zur heutigen Bedeutung des Holodomor in der ukrainischen Geschichte erklärte Kempe: "Es ist für die Menschen hier der Genozid am ukrainischen Volk." Zu Zeiten der Sowjetunion sei dieses Kapitel noch totgeschwiegen worden, erst nach der Unabhängigkeit und in den vergangenen Jahren sei es wieder in das Bewusstsein der Menschen gekommen. "Nach neun Monaten Angriffskrieg ist das ein Tag, an dem man nochmal besonders innehält", so Kempe.
Scholz erinnert an Opfer der Hungersnot
Auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) erinnerte an die Opfer des Holodomor. "Heute sind wir uns einig, dass Hunger nie wieder als Waffe eingesetzt werden darf", sagte Scholz anlässlich einer neuen Initiative namens "Getreide aus der Ukraine". "Deshalb können wir nicht hinnehmen, was wir gerade erleben: Die schlimmste globale Ernährungskrise seit Jahren mit verheerenden Folgen für Millionen von Menschen - von Afghanistan bis Madagaskar, von der Sahelzone bis zum Horn von Afrika."
Russland habe diese Situation verschärft, indem es die landwirtschaftliche Infrastruktur in der Ukraine ins Visier genommen und die Häfen am Schwarzen Meer monatelang blockiert habe. Deutschland stelle in Zusammenarbeit mit dem Welternährungsprogramm weitere zehn Millionen Euro bereit, um Getreidelieferungen aus der Ukraine voranzutreiben, erklärte Scholz.
Die Vereinten Nationen und die Türkei hatten im Juli erreicht, dass Russland die Seeblockade ukrainischer Schwarzmeerhäfen speziell für Getreideexporte aufhebt. Moskau hatte das Abkommen jedoch zeitweise ausgesetzt. Die Ukraine ist ein wichtiger Lieferant für die weltweite Versorgung mit Lebensmitteln.
Deutschland könnte Holodomor als Genozid anerkennen
Mehrere Länder haben den Holodomor bereits als Genozid am ukrainischen Volk eingestuft und verurteilt, erst kürzlich vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs auch Irland, die Republik Moldau und Rumänien. Deutschland könnte folgen.
Am Mittwoch soll ein Resolutionsentwurf im Bundestag beraten und beschlossen werden. "Betroffen von Hunger und Repressionen war die gesamte Ukraine, nicht nur deren getreideproduzierende Regionen", heißt es in dem Papier. "Damit liegt aus heutiger Perspektive eine historisch-politische Einordnung als Völkermord nahe. Der Deutsche Bundestag teilt eine solche Einordnung."