Tia
reportage

Flucht aus der Ostukraine Den Besatzern und den Drohungen entkommen

Stand: 04.10.2024 18:54 Uhr

Vor zehn Jahren besetzte Russland Teile der Ostukraine. Als junges Mädchen erlebt Tia die Zwangsrussifizierung ihrer Heimat - und wehrte sich lange. Jetzt lebt sie im ukrainisch kontrollierten Gebiet und kämpft auch dort um ihre Identität.

Von Andrea Beer, ARD Kiew

Tia sitzt im Taras-Schewtschenko-Park in Kiew und trinkt einen Kaffee. Als Russland 2014 ihre Heimatstadt nahe Donezk im Osten der Ukraine besetzt, ist sie noch ein kleines Mädchen von acht Jahren.

Kindergarten und Grundschule durchläuft sie auf Ukrainisch, dann umgibt sie der aggressive Propagandaraum der sogenannten "russischen Welt", dem sie auch zu Hause nicht entkommt: "Meine Familie lebt unter russischer Besatzung und unterstützt das dort herrschende Regime."

Orangegefärbte halblange Haare, silberne Ohrringe, das beige T-Shirt in eine weite Hose gesteckt und ein ausgeprägter Eigensinn: Es ist eine ungewöhnliche junge Frau, die ihren Weg aus einer repressiven Gedankenwelt beschreibt. Sie liebt die ukrainische Sprache und lehnt ihre Eltern ab, was stark zur Ablösung vom System beiträgt. Vater und Mutter seien Alkoholiker und für sie keine Autoritäten gewesen. "Wenn man zehn Jahren in einer Krise lebt, geht man entweder kaputt oder wird stärker."

Durch Demokratiebewegung in Belarus politisiert

Tia ist 16 Jahre alt, als sie durch die belarusische Demokratiebewegung politisiert wird, die gegen den Wahlbetrug von Machthaber Alexander Lukaschenko auf die Straße geht. Sie entdeckt unabhängige Medien und identifiziert sich mit Menschen, die sie für russische Oppositionelle hält. Noch verortet sie sich im russischen Raum: "Ich erkannte, dass mein Zuhause völlig von Russland abhängig war."

Trotz russischem Besatzungsdruck spricht sie auch öffentlich Ukrainisch. Damit fällt sie auf in ihrer russisch besetzten Heimat, in der Rechtlosigkeit, Willkür und Korruption herrschen. Um ihre Familie und Freunde in ihrer Heimatstadt nahe Donezk nicht zu gefährden, nennt sie diese nicht öffentlich. Die Lebensbedingungen dort seien schlecht: mangelhafte Wasserversorgung, keine Arbeit und die Massenmobilisierung ukrainischer Männern in die russische Besatzungsarmee.

Unverhüllte Drohungen und Denunziationen

Die russische Vollinvasion im Februar 2022 ist eine weitere wichtige Zäsur im Leben der rebellischen jungen Frau. "Stoppt den Krieg", postet sie auf Social Media, als 19-jährige Studentin, die damals russische Philologie studiert. "Ich wurde von meinem Umfeld bedroht", sagt Tia. Ihr sei auch angedroht worden, sie zu denunzieren. "Denunziationen sind dort kein Relikt aus der Sowjetära der 1930er-Jahre, sondern können gravierende Konsequenzen haben."

Im Oktober 2023 wagt sie über Russland die Flucht ins Ungewisse. Aus Sicherheitsgründen nennt sie keine Details, weil sie die Fluchthelfer nicht gefährden möchte.

Tia kommt nach Charkiw - und eine demütigende Odyssee durch die ukrainische Bürokratie beginnt. Aufgrund ihres Alters hat sie außer ihrer ukrainischen Geburtsurkunde nur Besatzungsdokumente der selbst ernannten "Donezker Volksrepublik". Russland hat dieses besetzte ukrainische Gebiet inzwischen völkerrechtswidrig annektiert. Ihre Dokumente muss Tia bei ihrer Ankunft auf ukrainisch kontrolliertem Territorium abgeben.

Langer Kampf um ukrainische Papiere

Ohne ukrainischen Pass ist die junge Frau praktisch rechtlos. Das bedeutet: Sie kann nicht zum Arzt, nicht legal arbeiten, nicht studieren und keine Wohnung mieten. Sie hat auch keinen Status einer Binnenvertriebenen und damit keine soziale Unterstützung.

Eine Charkiwer Menschenrechtsgruppe hilft Tia, doch der zermürbende Kampf um gültige ukrainische Papiere dauert ein ganzes Jahr. Das liegt auch daran, dass sie ihre Identität nicht so nachweisen kann, wie es das Gesetz verlangt, beispielsweise mit Zeugen. Ihre prorussischen Eltern kann sie nicht fragen, und im ukrainisch kontrollierten Gebiet kennt sie niemanden:

Ich habe zehn Jahre lang in den besetzten Gebieten gelebt und hatte keinerlei Verbindung zu den ukrainisch kontrollierten Gebieten.
Tia

Es sei dringend notwendig, ein Verfahren zu entwickeln, um die Identität zu bestätigen, wenn es keine Zeugen gebe, sagt sie. Das zuständige Ministerium für Reintegration der vorübergehend besetzten Gebiete ließ Anfragen des ARD-Studios Kiew zu diesem Thema unbeantwortet.

"Ich habe wertvolle Zeit verloren"

Vor Kurzem hat der Migrationsdienst Tia endlich einen ukrainischen Pass ausgestellt. Sie kann nun endlich zum Arzt gehen und etwa Bankgeschäfte erledigen. Jetzt möchte sie in Kiew oder Charkiw studieren. Es bleibt ein unangenehmer Nachgeschmack: "Ich habe fast ein Jahr ohne Dokumente verbracht und wertvolle Zeit verloren."

Zwölf Jahre nachdem Russland ihre Heimatstadt bei Donezk besetzt hat, ist aus dem kleinen Mädchen von damals eine starke, unabhängige Frau geworden. Zu ihrer Familie hat sie keinen Kontakt, doch ihre Herkunft aus dem Donbass ist ihr wichtig. Über die Menschen von dort werde wenig Gutes gesagt: "Wir sind eine starke menschliche Ressource. Wir sind klug, wir sind etwas wert und wir sind auch Ukrainer."