Isjum in der Ukraine Befreit heißt noch lange nicht frei
Die Stadt Isjum in der ukrainischen Region Charkiw gilt als befreit, die russischen Truppen haben sich zurückgezogen. Doch die Besatzer haben ihre Spuren hinterlassen - in der Stadt und in den Köpfen der Menschen.
Ein ukrainischer Panzer passiert den Ortseingang von Isjum und die Soldaten machen das Siegeszeichen. Sie kontrollieren Isjum, und auch ukrainische Polizisten wie Oleksandr patrouillieren wieder. Die behandschuhten Hände lässig auf dem schwarzen Maschinengewehr steht er am Ufer des Flusses Siwerskyj Donez.
"Die Invasoren haben uns am Anfang viel aus Flugzeugen bombardiert und uns beschossen. Sie haben die Stadt mit allem, was sie hatten, angegriffen", erzählt Oleksandr:
Am schlimmsten war es, morgens den Keller zu verlassen, denn überall in der Stadt lagen dann Leichen. Soweit ich weiß, wurden alleine im April 1000 Zivilisten getötet. Wir haben die Menschen dort beerdigt, wo wir sie gefunden haben - bei Häusern, Kindergärten oder in Höfen.
Oleksandr ist Polizist in Isjum. Er floh mit seiner Familie nach einigen Wochen russischer Besatzung.
Über anderthalb Monate im Keller ausgeharrt
Erst später hätten die Besatzer ein paar Leute organisiert, die die Leichen ausgegraben und auf dem Friedhof beerdigt hätten, sagt Oleksandr weiter. Er verheimlichte seinen Beruf als Polizist tunlichst vor den russischen Truppen, ausüben konnte er ihn im besetzten Isjum ohnehin nicht mehr.
"Zu Beginn der Besatzung Anfang April waren wir über eineinhalb Monate im Keller des Kindergartens", erzählt Oleksandr weiter:
Meine kleine Tochter, meine Frau, deren Vater mit Behinderung, Mutter und Großmutter. Dann ging uns das Essen aus und wir mussten uns entscheiden. Wir sind dann mit der ganzen Familie 18 Kilometer durch den Wald geflohen, um der Besatzung zu entkommen.
"Ich könnte sie alle umarmen"
Alexander Sabodyshin hat die gesamte Besatzungszeit in Isjum verbringen müssen. "Ich kann gar nicht beschreiben, was ich fühle", sagt der 72-Jährige an sein altes Fahrrad gelehnt:
Es ist überwältigend. Ich kann es nicht beschreiben, wir können gar nicht fassen, dass alles vorbei ist. Wir hätten nicht gedacht, dass es so lange dauert. Gestern hatten wir noch Angst - und heute gehen wir einfach auf die Straße und sehen uns. Ich könnte sie alle umarmen.
Plünderungen, Raub, Tod
Vor allem um Kinder und Enkel sorgte sich der 72-jährige Rentner in den fast sechs Monaten der verhassten russischen Besatzung. Als sie im Keller vor Bomben und Kugelhagel hätten Schutz suchen müssen, als das Essen und Medikamente knapp geworden seien und als in Isjum Plündern, Rauben und Töten Alltag geworden sei.
"Sie haben viel geplündert und uns alles weggenommen. Lebensmittel und vor allem Elektrowerkzeug", erinnert sich Alexander: "Wir waren so arm und voller Angst. Gott sei Dank ist alles vorbei."
Auch diese Apotheke ist zerstört. Betreten wegen Minengefahr verboten.
Es sprudelt nur so heraus aus ihm, bis er dann sein Fahrrad weiterschiebt - vorbei an den leeren zerschossenen Häusern, die einmal die Post waren oder die Apotheke, die Bank, das Lebensmittelgeschäft, die Schule, das Restaurant und die Stadtverwaltung. Nun übersät mit Einschusslöcher und ausgebrannt. Bewaffnete Soldaten patrouillieren, damit niemand in den Trümmern herumspaziert, denn alles ist vermint.
Zerstörung schockiert, aber überrascht nicht mehr
Ein paar hundert Meter weiter wird an diesem Tag die ukrainische Flagge gehisst. Präsident Wolodymyr Selenskyj nimmt ohne vorherige Ankündigung teil. Keine 20 Kilometer von der Front entfernt, taucht er auf wie aus Nichts und dankt den Soldaten. Müde wirkt er und abgekämpft.
Präsident Selenskyj in Isjum, knapp 20 km von der Front entfernt.
"Das ist für mich keine Überraschung. Natürlich ist das alles schockierend, aber nicht für mich", sagt der Präsident über die Lage in Isjum. "Denn wir kennen das aus Butscha und den zuerst befreiten Gebieten. Dieselben zerstörten Gebäude, Menschen getötet."
Der Wunsch, zu töten - mit vier Jahren
Auch Polizist Oleksandr empfindet nur Verachtung für die verhassten Besatzer. In Isjum seien sie "aus allen Ecken Russlands" gewesen, aber auch Ukrainer aus den seit 2014 besetzten Gebieten Donezk und Luhansk. "Sie waren alle hier und die Leute von Kadyrow (Anmerkung der Redaktion: Ramsan Kadyrow, Machthaber der russischen Teilrepublik Tschetschenien) hatten dann Streit mit den Russen. Darüber, wer als erster die Bankautomaten aufbrechen darf. Sie sind überall herumgelaufen und haben Essen genommen, in Häusern gelebt, auch in Kindergärten", so Oleksandr.
Kindergärten, in deren Kellern auch seine geliebte kleine Tochter wochenlang ausharren musste. "Sie lebt nicht in Isjum und ist stark", sagt er liebevoll - doch ein Telefonat mit ihr bereitet ihm Kummer.
"Papa, passt du auch gut auf meine Spielsachen auf?", habe seine Tochter gefragt. "Ja", antwortet Oleksandr. "Und hast du ein Maschinengewehr?" Auch das bejaht der Polizist. "Ich brauche auch eins", erwidert daraufhin seine Tochter und antwortet auf die Frage nach dem Warum: "Ich möchte Russen töten."
Eine Vierjährige, die sagt, sie möchte ein Maschinengewehr, um Russen zu töten. Die Befreiung von Isjum ist noch nicht lange her - und der Weg in die Freiheit - er ist noch lang.