Wie Lwiw den Ukraine-Krieg spürt Weit von der Front und doch ganz nah
In Lwiw in der Westukraine ist der Krieg auf den ersten Blick weit weg. Die Kämpfe finden weit im Osten des Landes statt, nur selten schlagen hier Raketen ein. Und doch wird die Stadt von den Schrecken des Krieges nicht verschont.
Schnee liegt auf den Wegen des Lytschakiwskyj-Friedhofs. Es ist ein grauer, kalter Wintertag. Hier sind die Berühmtheiten der Stadt begraben, auch ein sowjetisches Ehrenmal steht hier. Bald soll ein neues Mahnmal dazukommen: Für die Soldaten aus Lwiw, die seit der russischen Invasion umgekommen sind. Für sie wurde am Rande des Friedhofs eigens ein neuer Sektor ausgewiesen. Dort sind seit März rund 200 Soldaten begraben worden und jeden Monat werden es mehr.
Ein Junge steckt zusammen mit einem Freund kleine ukrainische Papierfahnen in die Gräber. "Wir denken, es ist richtig, dass wir jenen gedenken, die für unser Leben kämpfen, unsere Freiheit, die Freiheit Europas und der ganzen Welt", sagt er. Mit seinem Freund ist er auf eigene Initiative hergekommen, sie gehören keiner Organisation an. "Jeder von ihnen ist für uns ein Held. Jeder von ihnen hat sein Leben gegeben, damit wir in Ruhe leben können und das Böse bekämpft wird".
Manche der Toten waren noch Teenager
Hier liegen sie, die Soldaten aus Lwiw. Manche waren noch Teenager, einige sind erst vor wenigen Tagen umgekommen. Andrij starb im Juni mit 26 Jahren. Seine Mutter steht vor seinem Grab. "Wenn ich eine freie Minute habe, komme ich hierher. Erst am Dienstag war ich hier, da war sein Namenstag. Ich habe ihm diese Bonbons mitgebracht, die hat er immer so gern gemocht."
Sie legt Schokoladenbonbons neben den Grabstein. Darüber hängt der Schal von Karpaty Lviv, Andrijs geliebtem Fußballverein. "Er war so ein guter Junge, sagt seine Mutter. Ein so hübscher Junge. Mein Kind! Ich kann das nicht überleben".
Für die Soldaten aus Lwiw, die seit der russischen Invasion umgekommen sind, wurde am Rande des Lytschakiwskyj-Friedhofs eigens ein neuer Sektor ausgewiesen. Seit März sind hier rund 200 Soldaten begraben worden.
Andrij sei im Frühjahr an der Front im Donbass verwundet worden, erzählt sie. Als er in einem Haus behandelt wurde, habe die russische Artillerie just dieses Haus beschossen. Andrij sei in den Flammen umgekommen. Es dauert Monate, bis die Mutter das Grab ihres Sohnes in Dnipro aufgespürt hatte. Im September wurden seine sterblichen Überreste nach Lwiw gebracht und umgebettet.
"Auch wir spüren den Krieg"
Die Trauma-Spezialistin Oksana Nakonetschna kennt viele solche Fälle. Sie leitet ein Kriseninterventionszentrum in Lwiw. "Nichts ist so schwierig wie die Therapie von jemandem, der überraschend einen Angehörigen verloren hat. Noch schwieriger ist es mit Menschen, deren Angehörige vermisst werden. Die nicht wissen, was mit ihnen passiert ist."
Oksana sitzt an diesem Nachmittag in einem Konferenzsaal in einem Hotel in Lwiw. Dort gibt sie einen Einführungskurs in Traumatherapie. Der Zulauf ist groß. Der Bedarf auch. Über 200.000 Menschen aus anderen Teilen der Ukraine sollen in Lwiw Zuflucht gesucht haben, viele von ihnen haben Schlimmes erlebt.
Der Krieg erreicht uns über Menschen, Informationen und gelegentlich auch über russische Raketen.
Von Lwiw nach Bachmut im Donbass sind es rund 1200 Kilometer Doch die Psychologin sagt: Auch wir spüren den Krieg. "Im digitalen Zeitalter ist Entfernung relativ. Sicher, was die geographische Distanz angeht, sind wir weit weg - aber sonst sind wir nah dran. Der Krieg beeinflusst uns durch die Leute, die zu uns kommen und traumatisiert sind. Wenn Sie mit Traumatisierten sprechen, hinterlässt das auch bei Ihnen Spuren. Der Krieg erreicht uns über Menschen, Informationen und gelegentlich auch über russische Raketen."
Zwar sind Raketeneinschläge hier seltener als etwa in Kiew. Aber auch in Lwiw gibt es immer wieder Luftalarm. Und wegen der wiederkehrenden Stromausfälle ist die Stadt jetzt genauso dunkel wie andere in der Ukraine.
"Weit weg von der Front, aber wir sind ein Land"
"Wir sind in Lwiw weit weg von der Front, aber wir sind ein Land“, sagt Ivanka Dymyd Krypyakevych. Sie ist Ehefrau eines Pfarrers. Auch sie hat einen Sohn verloren. Sein Name war Artem, er wurde 27 Jahre alt. "Artem war ein fröhlicher Mensch, sehr fröhlich. Er hat sehr leicht alles Neue gelernt, auch die neue Waffe oder irgendwelche neuen Dinge. Er hat nie gesagt, dass er es nicht lernen kann."
Ivanka sitzt an ihrem Küchentisch, in der Ecke bollert ein Holzofen. Artem habe sich schon 2014 beim Militär gemeldet und in einer Sondereinheit im Donbass gekämpft. Als die russische Invasion losging, war er in Brasilien. Er nahm dort an einem Wettbewerb für Fallschirmspringer teil. Artem kam sofort nach Hause. "Gerade mal fünf Minuten war er hier. Er hat seine Sachen gepackt und ist dann zum Zug gegangen. Ich habe ihn nur umarmt und alles Gute gewünscht."
Es war das letzte Mal, dass Ivanka ihn gesehen hat. Im Juni wurde er in der Region Cherson bei einem russischen Raketenangriff schwer verletzt, er starb kurze Zeit später. "Wir hatten Glück, seine Kameraden haben die Leiche gleich hierher überführt. Nach zwei Tagen war sie schon hier. Ich kenne Fälle, in denen die Menschen ein halbes Jahr und mehr auf die sterblichen Überreste warten mussten."
Ein letztes Gute-Nacht-Lied für den Sohn
Ivanka blättert durch das Fotoalbum, in das sie Bilder von Artem geklebt hat: Von seinem Urlaub im vergangenen Jahr, als die Welt noch in Ordnung schien. Und aus seiner Kindheit. Ivanka und ihr Mann hätten ihre Kinder gelehrt, dass man für seine Werte einstehen muss, sagt sie. Und diese Überzeugung habe Artem gelebt, in aller Konsequenz.
Auch ihr zweiter Sohn ist jetzt in der Armee, er hilft in Kiew bei der Luftabwehr. Natürlich hat sie Angst, ihn auch zu verlieren. Aber Eltern müssten verstehen, dass Kinder ihre eigenen Entscheidungen treffen. "Die Ukraine verteidigt Europa, so, wie das schon die Kosaken getan haben. Wir sind die Grenze der zivilisierten Welt. Das haben wir auch unseren Kindern gesagt. Aber wir hätten uns nie vorstellen können, dass sie dafür ihr Leben opfern würden."
Bei der Trauerfeier für Artem singt Ivanka in der Kirche. "Das kleine Kind weint, oh, schlaf, mein Kind, ich werde diese Wiege schaukeln". Es ist das letzte Gute-Nacht-Lied für Artem, sie steht neben seinem Sarg. Das Video gelangte ins Internet, es wurde zehntausendfach angeklickt. Zumindest wissen sie: Sie sind in der Ukraine nicht allein mit ihrem Schmerz.