Prognose anderer Staaten Wann endet der Krieg in der Ukraine?
Während die Ukraine an einen Sieg glaubt und Russland wiederholt, alles laufe "nach Plan", treffen andere Staaten ihre eigenen Prognosen für ein Kriegsende: vom Einschwören auf langes Durchhalten bis zu Wiederaufbau-Plänen.
Ukraine: Glaube an den Sieg
Ende des Jahres soll der Krieg vorbei sein. Das wünscht sich zumindest der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. Und macht aber gleich klar: Einen Frieden um jeden Preis werde es mit der Ukraine nicht geben. Im Rahmen des G7-Gipfels gab Selenskyj an, man wolle in eine "vorteilhafte Position" kommen und nur aus einer "Position der Stärke" heraus Verhandlungen mit Russland aufnehmen.
Die Kriegsziele der Ukraine lassen sich derzeit auf zwei Etappenziele aufteilen: "Sieg 1 und Sieg 2", wie es der Gouverneur der Region Mykolajiw, Witalij Kim, im Interview mit der ARD nannte. Sieg 1 wäre demnach die Zurückeroberung der seit dem 24. Februar verlorenen Territorien und Sieg 2 die Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine. Sprich: Auch die Krim und der gesamte Donbass sollen an die Ukraine zurückgehen.
Letzteres könne sogar schon nächstes Jahr der Fall sein, sagte der Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes, Kyrylo Budanow, im Interview mit ukrainischen Medien. Er geht davon aus, dass Russland weiterhin die gesamte Ukraine zerstören wolle, also werde man keinen Handel mit Territorien betreiben. Für eine Gegenoffensive sei es derzeit noch zu früh, man warte auf benötigte Waffen aus dem Westen. Laut Budanow werde die Ukraine bereits im August erste militärische Erfolge zu verzeichnen haben. Im Winter erwartet er eine deutliche Reduzierung der Kampfhandlungen. Aktuell glaubt eine große Mehrheit der Ukrainerinnen und Ukrainer an einen militärischen Sieg gegen Russland. Rebecca Barth, WDR, zurzeit Kiew
Weiß schraffiert: Vormarsch der russischen Armee. Grün schraffiert: von Russland unterstützte Separatistengebiete. Krim: von Russland annektiert.
Russland: "Alles läuft nach Plan"
Die Frage nach dem "Wie lange noch?" beantwortet der Kreml seit mittlerweile gut vier Monaten immer gleich: "Alles läuft nach Plan"." Überhaupt bestehe keine Notwendigkeit über Fristen zu sprechen, erklärte Wladimir Putin erst vor wenigen Tagen. Weil es vor Ort darauf ankomme, sich an die Gegebenheiten anzupassen und nicht an irgendeinen Zeitrahmen. Außerdem gehe es vor allem darum, das Leben der russischen Soldaten - "unserer Jungs", wie Putin sie nennt - bestmöglich zu schützen.
Nach offiziellen Angaben des russischen Verteidigungsministeriums sind während der sogenannten "militärischen Spezialoperation in der Ukraine" auf russischer Seite 1351 Menschen gestorben - das Ministerium hat diese Zahl Ende März veröffentlicht und sie seitdem nicht mehr verändert. Und auch strategisch lässt sich der Kreml nicht in die Karten schauen. Auf den Lagebericht des Verteidigungsministers über die Einnahme der Stadt Lyssytschansk entgegnete Putin lediglich: Er hoffe, dass die übrigen Einheiten ihre Aufgabe ebenso planmäßig erfüllen.
Klar benannt hat der russische Präsident hingegen erst kürzlich wieder das - so wörtlich - "Endziel" des Einsatzes: die "Befreiung" des Donbass, der Schutz der dort lebenden Menschen und die Schaffung von Bedingungen, die die Sicherheit Russlands selbst garantieren. Und zwar, wie der Kreml immer wieder betont, gegenüber dem Westen und der NATO. Martha Wilczynski, ARD-Studio Moskau
Deutschland: Wenig Zuversicht
Niemand im politischen Berlin wagt derzeit, eine Kristallkugel-Prognose abzugeben, wann der russische Angriffskrieg vorbei sein könnte. "Wir sind nicht in der Situation, in der man das Ende absehen kann" - diesen Satz hatte Kanzler Olaf Scholz vor der Bergkulisse von Elmau beim G7-Gipfel gesagt - und auch aus seiner Skepsis kein Geheimnis gemacht, dass sich Putin bald auf Verhandlungen einlassen könnte. Und selbst ausgewiesene Militärfachleute sind vorsichtig geworden, was Vorhersagen angeht - nachdem man der Ukraine zu Beginn der großflächigen russischen Invasion eine baldige Niederlage prophezeit und damit doch sehr weit danebengelegen hatte.
Die meisten Experten, aber auch Unions- und Ampelpolitiker sind davon überzeugt, dass dieser Krieg erst dann enden wird, wenn Putin spürt, dass er nicht gewinnen kann. Oder militärisch nicht mehr weiterkommt. Weitere, zügigere Waffenlieferungen an die Ukraine sind aus deren Sicht also überhaupt erst die Voraussetzung dafür, dass Russland sich auf Verhandlungen einlässt. Ob man das im Kanzleramt genauso sieht, daran hegt man bei der Opposition Zweifel.
Ernsthaft Sorgen macht sich gerade Kanzler Scholz wegen der Folgen des Krieges: "Sozialen Sprengstoff" nannte Scholz in der ARD massiv steigende Heizkosten. Gerade nach dem Sommer könnte auf die Deutschen - das treibt die Bundesregierung um - ein geradezu erdrückender Belastungsmix zukommen: Wenn die Inflation hoch bleibt, Russland eventuell gar kein Gas mehr liefert und dann noch ein harter Corona-Herbst hinzukommt. Nicht ausgeschlossen, dass Putin genau auf so eine explosive Gemengelage in Deutschland und Europa spekuliert. Kai Küstner, ARD-Hauptstadtstudio
Großbritannien: Johnson kann punkten
In Großbritannien werden Offene Briefe mit Verhandlungsappellen, wie sie in Deutschland geschrieben werden, nicht verfasst. Der britische Premierminister Boris Johnson schwört seine Landsleute immer wieder auf eine lange Kriegsdauer ein. Unter anderem schrieb er in einem Zeitungsartikel, man müsse sich für einen langandauernden Krieg wappnen, während Putin auf eine Zermürbungskampagne setze und versuche, die Ukraine mit schierer Brutalität zu zermalmen. Die Aufgabe des Vereinigten Königreichs und anderer Verbündeter sei es, sicherstellen, dass die Ukraine die strategische Ausdauer habe, um zu überleben und sich schließlich durchzusetzen.
Das Vereinigte Königreich hatte schon früh Waffen an die Ukraine geliefert und Johnson war der erste westliche Regierungschef, der nach Kriegsbeginn überraschend nach Kiew reiste - und war inzwischen ein zweites Mal dort. Außerdem hat er per Videoschalte eine Rede im ukrainischen Parlament gehalten. Der ukrainische Präsident Selenskyj lobt Johnson gern als vorbildlichen Verbündeten. Johnson ist durch Wahlschlappen, diverse Party- und Filz-Affären, Streiks und Kritik wegen steigender Lebenshaltungskosten innenpolitisch schwer angeschlagen. Glänzen kann er nur noch außenpolitisch. Sein demonstrativer Schulterschluss mit Selenskyj verschafft ihm wenigstens ab und zu positive Schlagzeilen. Gabi Biesinger, ARD-Studio London
NATO: An Wiederaufbau denken
Auf den Fluren der NATO, im Brüsseler Hauptquartier der Allianz, rechnet niemand mit einem schnellen Ende des Krieges. Im Gegenteil. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagt bei jeder Gelegenheit, das Bündnis müsse sich darauf vorbereiten, dass der Krieg noch Jahre dauert. Wenn man Militärexperten fragt, worauf diese Vorhersage beruht, bekommt man eine doppelte Antwort: einmal die hohe Kampfbereitschaft der ukrainischen Soldaten - die sei zuerst unterschätzt worden. Dann aber auch die immer noch zahlenmäßige Überlegenheit der russischen Armee, die dürfe man jetzt nicht unterschätzen. Beides zusammen wird kriegsentscheidende Schlachten jedenfalls wohl fürs Erste verhindern.
Obwohl also keine Waffenruhe in Sicht ist, plant man zehn Kilometer südwestlich vom NATO-Hauptquartier, in der EU-Kommission, schon die Zeit nach dem Krieg. Beamte rechnen aus, was der Wiederaufbau kostet. Ganze Städte sind zerstört, die Wasserversorgung, Brücken, und Bahnlinien, Schulen und Fabriken. Die Schätzungen gehen auseinander, zwischen 500 Milliarden und 1,5 Billionen - das wäre dann das Dreifache. Die EU habe eine besondere Verantwortung bei der Finanzierung, sagt Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Andere sehen die eingefrorenen russischen Vermögenswerte an erster Stelle für den Wiederaufbau der Ukraine. Helga Schmidt, ARD-Studio Brüssel
USA: Keine offiziellen Prognosen
"Wir werden die Ukraine unterstützen, so lange, wie es nötig ist", sagte US-Präsident Joe Biden beim NATO-Gipfel in Madrid. Auf die Nachfrage, wie lange das sein wird, war seine Antwort: Er wisse nicht, wann der Krieg enden wird. Aber er werde nicht mit einem Sieg Russlands auf ukrainischem Boden enden. Von offizieller Seite in den USA gibt es damit keine Vorhersage oder auch nur eine vorsichtige Schätzung, wann der Krieg in der Ukraine vorbei sind wird. Und das hat auch strategische und taktische Gründe. Die USA wollen nicht jedes Detail mit der Öffentlichkeit und damit auch nicht mit Russland teilen.
Diese Linie wurde seit Beginn des Krieges immer wieder sehr klar kommuniziert. Deshalb werde auch sehr genau abgewogen, wie sich die Biden Regierung zum Zustand der ukrainischen Armee und ihrer Ausrüstung äußere und auch zu Verlusten und Schäden, erklärte ein Pentagonsprecher vor einigen Tagen. Man werde nicht die Geheimdienstarbeit Russlands an dieser Stelle übernehmen, sagte der Sprecher. Daher lässt sich aus den offiziellen Mitteilungen nur herauslesen, dass die USA es nicht für unwahrscheinlich halten, dass sich Frontlinien irgendwann verfestigen werden und der Krieg noch über einen langen Zeitraum weitergehen wird. Florian Mayer, ARD-Studio Washington