Krieg gegen die Ukraine Berichte über Kriegsverbrechen: Was bekannt ist
Die ukrainische Führung wirft Russland Kriegsverbrechen vor - und vice versa. Im Netz kursieren Aufnahmen, die Vergehen an Zivilisten zeigen sollen. Nicht immer sind die Hinweise eindeutig.
Nach den ersten Tagen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine häufen sich Berichte, denen zufolge russische Truppen zunehmend zivile Ziele getroffen oder gezielt angegriffen haben sollen. Der staatliche Dienst für Notfallsituationen teilte Berichten zufolge mit, binnen einer Woche seien in der Ukraine 2000 Zivilisten getötet worden.
Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba wiederholte mehrfach, es handle sich beim russischen Vorgehen um Kriegsverbrechen.
Nachrichten- und Aktivistenseiten im Netz - nicht nur im ukrainischsprachigen Raum - bekräftigen die Vorwürfe und präsentieren auf sozialen Netzwerken kursierende Bilder und Videos als Belege. Weder die Authentizität der Aufnahmen noch die geschilderten Kriegsereignisse lassen sich stets unabhängig verifizieren. Doch weltweit greifen Politiker den Vorwurf von Kriegsverbrechen auf - darunter jüngst der britische Premierminister Boris Johnson.
Das Ermittlungskomitee der Russischen Föderation seinerseits teilte auf seiner Webseite mit, es ermittle zum Vorwurf des russischen Verteidigungsministeriums, dass ukrainische Streitkräfte russische Kriegsgefangene gefoltert hätten. Konkrete Angaben, auf welche Vorfälle das Komitee sich bezieht oder Belege veröffentlichte es nicht.
Was ist über die berichteten Fälle bekannt? Und auf welcher Rechtsgrundlage können "Kriegsverbrechen" geahndet werden? Ein Überblick.
Auf welcher Rechtsgrundlage sind Kriegsverbrechen ahndbar?
Was unter einem Kriegsverbrechen zu verstehen ist, hat die große Mehrheit der UN-Staaten in den Genfer Abkommen von 1949 und dem Römischen Statut festgehalten. Die Genfer Abkommen regeln unter anderem den Schutz der Zivilbevölkerung und von Kriegsgefangenen in einem internationalen bewaffneten Konflikt. Mit dem Römischen Statut wurde der Internationale Strafgerichtshof eingerichtet, der Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das Verbrechen der Aggression und eben Kriegsverbrechen verfolgen kann.
Welche Taten sind darin unter Strafe gestellt?
Kriegsverbrechen sind nach Artikel 8 des Römischen Status "schwere Verletzungen der Genfer Abkommen" - unter anderem die vorsätzliche Tötung und Folter von Zivilisten sowie Kriegsgefangenen, aber auch schwere Körperverletzungen. Weiter aufgelistet werden die willkürliche Zerstörung und Aneignung von Eigentum in großem Ausmaß, Vertreibung und Geiselnahmen.
Daneben werden auch als Kriegsverbrechen definiert: "andere schwere Verstöße gegen die (…) im internationalen bewaffneten Konflikt anwendbaren Gesetze und Gebräuche". Dazu zählen etwa Angriffe auf die Zivilbevölkerung, zivile Objekte und humanitäre Hilfsmissionen sowie überhaupt das Führen eines Angriffs. Außerdem auch Plünderungen, die Verwendung von Giftwaffen, Vergewaltigungen, sexuelle Sklaverei und Nötigung zur Prostitution, das Aushungern von Zivilisten und der Einsatz von Kindersoldaten.
Berichte über Einsatz von Streumunition
Streumunition ist international geächtet - unter anderem im 2010 in Kraft getretenen Übereinkommen über Streumunition, einem völkerrechtlichen Vertrag, dem sich allerdings weder Russland noch die Ukraine angeschlossen haben. Sie besteht aus Geschossen, die eine Vielzahl kleinerer Geschosse freisetzen und deshalb besonders brutale Schäden verursachen können.
Die Menschenrechtsorganisation "Human Rights Watch" (HRW) berichtet, beim Einschlag einer Streubombe in der Stadt Wuhledar in der Oblast Donezk vor einer Klinik seien vier Zivilisten getötet und zehn Menschen verletzt worden. Bei dem Geschoss soll es sich um einen Sprengkopf handeln, der mit einer ballistischen 9K79 Totschka-Geschoss abgefeuert wurde, die unter dem NATO-Codenamen SS-21 Scarab bekannt ist. Mit Sprengköpfen des angeblich aufgefundenen Typs N123 werden allerdings üblicherweise chemische Kampfstoffe abgefeuert.
Zur Bestätigung gibt HRW an, einen Doktor und die Verwaltung der Klinik angerufen zu haben - dort seien die Namen der Getöteten und Verwundeten bestätigt und auch Fotos zur Verfügung gestellt worden.
Die Investigativ-Journalistengruppe "Bellingcat" berichtet, sie habe anhand von Aufnahmen in sozialen Netzwerken noch weitere Stellen aufgespürt, an denen russische Streumunition eingeschlagen sein soll - darunter in einer Wohngegend unweit einer Kinderklinik in der umkämpften Stadt Charkiw.
Über beide Fälle berichtet auch Amnesty International und erklärt, die vorliegenden Aufnahmen mit den Mitteln seines Crisis Evidence Lab geprüft zu haben. Russland gehe beim Einsatz ballistischer Raketen und anderer Sprengsätze in dicht besiedelten Gebieten mit "eklatanter Achtlosigkeit" vor, wird Amnesty-Generalsekretärin Agnès Callamard zitiert: "Einige dieser Angriffe könnten Kriegsverbrechen sein."
In der Stadt Ochtyrka 100 Kilometer westlich von Charkiw soll bei einem Artillerieangriff ein Kindergarten getroffen worden sein. Als Belege, dass zum Zeitpunkt des Angriffs am 24. Februar russische Truppen in und um die Stadt präsent und in Kämpfe verwickelt waren, führt "Bellingcat" entsprechende Posts in sozialen Netzwerken an. Über die via Geolokation von "Bellingcat" in der Nähe aufgespürten Raketenwerfersysteme BM-27 und BM-30 verfügt allerdings sowohl Russland als auch die Ukraine. Wer die Rakete abgefeuert hat, lasse sich daher nicht klären.
Berichte über Einschlag in Kindergarten in Stanyzja Luhanska
Die ukrainische "Joint Forces Operation", die für den Kampfeinsatz gegen die selbsternannten und von Russland anerkannten und gesteuerten "Volksrepubliken Donezk und Luhansk" zuständig ist, veröffentlichte am 17. Februar auf Facebook die Meldung, ein Kindergartengebäude im Ort Stanyzja Luhanska sei von einem Artilleriegeschoss getroffen worden, das die Separatisten ins von der Regierung kontrollierte Gebiet abgeschossen hätten. Diese wiesen den Vorwurf zurück.
Drei Mitarbeiter des Kindergartens seien demnach leicht verletzt worden - das Portal Ukrinform berichtet von zwei Verletzten. Auf einem von der ukrainischen Polizei veröffentlichten Video, das den Kindergarten zeigen soll, war ein riesiges Loch in der Wand zu sehen.
OSZE-Beobachter versuchten die Umstände des Beschusses in Stanyzja Luhanska zu klären. Sie seien jedoch von örtlichen Behördenvertretern unter Verweis auf ukrainische Untersuchungen nicht näher als 30 Meter an das Einschlagsloch gelassen worden, hieß es. Sie hätten daher keine Angaben zum Waffentyp und zur Richtung, aus der das Geschoss kam, machen können.
Berichte über getöteten Zivilisten in Uman
Ukrainische Medien meldeten am 24. Februar übereinstimmend, bei einem Angriff auf die Stadt Uman in der Oblast von Tscherkassy sei ein Zivilist getötet worden. Auch ein nahegelegenes Lokal sei beschädigt worden, hieß es. Fünf weitere Menschen seien verletzt. Sie beriefen sich dabei auf Angaben des Oblast-Verwaltungschefs Alexander Skitschko, der auf seiner Facebook-Seite entsprechende Angaben veröffentlichte.
Berichte über Beschuss eines Zivilisten-Busses
Im Umland der Stadt Sumy im Nordosten der Ukraine 20 Kilometer von der Grenze zu Russland entfernt liegt, soll ein Bus mit Zivilisten beschossen worden sein. Das ukrainische Nachrichtenportal "Ukrainska Pravda" meldete am Sonntag, russische Truppen hätten einen Bus mit Zivilisten beschossen und anschließend keine Erste Hilfe zu ihnen gelassen.
Das Portal beruft sich dabei auf Angaben von Dmytro Schywyzkyj, den Leiter der Verwaltung aus der Oblast von Sumy, der auf Telegram schrieb, zwischen den Ortschaften Tschupachowka und Dwschik sei die Umgebung vermint, sodass keine andere Zufahrt zu den Verletzten möglich gewesen sei. Schwywyzkyj schrieb: "Die Angaben werden geprüft, Details folgen." Seitdem hat er jedoch keine weiteren Informationen dazu veröffentlicht.
Berichte über Tötung eines Schulkindes
Russische Sabotage- und Aufklärungsgruppen sollen in Kiew am Vormittag des 26. Februar ein Mädchen im Grundschulalter und ihre Eltern erschossen haben, berichtet das Portal lb.ua. Zwei weitere Kinder der Familie befänden sich schwer verletzt im Krankenhaus - für sie ruft das Portal in der Meldung zu Spenden auf. Zum Beleg der Identität zeigt das Portal ein Foto, das die Schülerin zeigen soll und führt an, sie heiße Polina und besuche die vierte Klasse der Schule Nummer 24 in Kiew. Auch die Seite censor.net berichtet über den Fall. Sie beruft sich auf den stellvertretenden Kiewer Bürgermeister Wolodymyr Bondarenko, der das Foto mit den Angaben auf Facebook veröffentlicht hat.
Video: Panzer fährt über Zivilfahrzeug
Auf einer Videoaufnahme aus dem nördlichen Kiewer Stadtteil Obolon ist zu sehen, wie ein Panzer auf offener Straße über ein Zivilfahrzeug fährt. Der Insasse des PKW, bei dem es sich um einen alten Mann handeln soll, soll überlebt haben. Verbreitet wurde die Aufnahme unter anderem von dem von belarusischen Oppositionellen geführten Nachrichtenkanal Nexta. Belege jenseits des zusammenhängenden Bildmaterials gibt es nicht - jedoch wollen einige Betrachter den Panzertyp Strela-10 (NATO-Code Gopher) erkannt haben - über solche Fahrzeuge verfügen sowohl Russland als auch die Ukraine.
Die britische Boulevardzeitung "The Sun" schreibt von einem angeblichen Augenzeugen namens "Viktor Berbasch", der den Vorfall beobachtet haben soll. Er wird mit den Worten zitiert: "Das war kein Zufall, was war zum Spaß - es war unnötig. Er ist einfach in dieses Auto hineingefahren, hat angehalten, den Rückwärtsgang eingelegt und weitergefahren." Der "Sun" zufolge geht das ukrainische Verteidigungsministerium davon aus, dass der Panzer von einer Gruppe "feindlicher Sabotage- und Aufklärungstruppen" gesteuert worden sei.
Vorwürfe des russischen Ermittlungskomitees an die Ukraine
Auf der Webseite des russischen Ermittlungskomitees teilte Behördenchef Alexander Bastrykin am 28. Februar mit, man ermittle wegen "krimineller Aktivitäten ukrainischer Nationalisten gegen die Zivilbevölkerung". In der Mitteilung warf er ukrainischen Kräften vor, verkleidet als "Volksmiliz von Luhansk" in dem von Russland als "Volksrepublik" anerkannten Territorium Zivilisten zu erschießen und in Mariupol Zivilisten als menschliche Schutzschilde zu benutzen. Angeblich schieße das ukrainische Militär auch auf Menschen, die versuchten aus der Stadt zu gelangen. Diese Handlungen seien als Kriegsverbrechen einzustufen, schrieb Bastrykin weiter. Belege für die der Ukraine vorgeworfenen Vorfälle präsentierte er nicht, sondern erklärte lediglich, die von ihm als "Fakten" bezeichneten Vorwürfe würden dokumentiert und untersucht.
Angriffe auf das Stadtzentrum Charkiws
Die zweitgrößte ukrainische Stadt Charkiw war seit Kriegsbeginn, aber insbesondere in den ersten Märztagen heftigem Beschuss ausgesetzt. Am Morgen des 1. März schlug ein Raketengeschoss auf dem zentralen Freiheitsplatz ein und beschädigte das Gebäude der Stadtverwaltung.
Laut Augenzeugen sei Charkiw neben Raketenbeschuss auch Luftangriffen ausgesetzt - nach Behördenangaben seien mehr als 80 Wohnhäuser zerstört worden und binnen 24 Stunden mindestens 21 Menschen getötet und 112 weitere verletzt worden. Auch ein Gebäude der Nationale Wassyl-Karasin-Universität Charkiw geriet nach einem Geschosseinschlag in Brand. Ein Berater des ukrainischen Innenministers, Anton Heraschtschenko, sagte, es gebe "praktisch kein Gebiet mehr in Charkiw, in dem noch keine Artilleriegranate eingeschlagen ist".
Amnesty International erhebt in diesem Zusammenhang den Vorwurf unterschiedsloser Angriffe. Sogenannte "indiscriminate attacks" sind Angriffe, die sich nicht gegen ein bestimmtes militärisches Ziel richten, nicht auf ein solches steuerbar oder in ihren Auswirkungen so eingrenzbar sind, dass keine zivilen Gebäude oder Zivilisten getroffen werden. Unterschiedslose Angriffe sind nach dem ersten Zusatzprotokoll der Genfer Abkommen verboten.
Raketeneinschläge in Holocaustdenkmal Babyn Jar
Beim russischen Angriff auf den Kiewer Fernsehturm am 1. März 2022 ist auch etwa einen Kilometer entfernte Holocaust-Gedenkstätte Babyn Jar beschädigt worden.
Bei Babyn Jar, einer Schlucht in Kiew, wurden am 29. und 30. September 1941 mehr als 33.000 Juden ermordet, als die Stadt von den Nazis besetzt war - es handelt sich um das größte Einzelmassaker an Zivilisten während des Zweiten Weltkriegs.
Direkt betroffen von dem Luftangriff, bei dem nach ukrainischen Angaben mindestens fünf Menschen getötet wurden, war die Gedenkstätte nicht, die Empörung über die symbolische Bedeutung des Bombardements war jedoch groß.
Ein Fotograf der Nachrichtenagentur AP, der vor Ort war, berichtete am 2. März, das zentrale Mahnmal dort sei unbeschädigt. Ein Sprecher der Gedenkstätte hatte zuvor erklärt, an einem jüdischen Friedhof auf dem Gelände habe es Schäden gegeben. Wie groß diese seien, sei aber unklar.
Mit Informationen von Claudia Kornmeier, ARD-Rechtsredaktion.