Ukraine Gegen den Krieg in der Psyche
Krieg traumatisiert - oft ein Leben lang. Die Ukraine setzt für ihre Streitkräfte deshalb auf Prävention. Sie bildet Experten für den Umgang mit Kriegserlebnissen aus - und für die richtige Reaktion im Stress.
Auf den ersten Blick wirkt es wie ein Meditationskurs der Volkshochschule. Rund 20 Frauen und Männer sitzen in einem großen Saal der Nationalen Wirtschaftsuniversität in Kiew auf Isomatten im Schneidersitz, die Arme ruhen auf den Knien, die Handflächen sind nach oben gedreht. Aber hier geht es nicht um Stressbewältigung im Alltag, sondern ums Überleben.
"Beim Stress an der Front kann vieles passieren. Das Verhalten der Menschen ist dann oft verändert. Sie sind wie blockiert, haben Panik, sind aggressiv oder hysterisch", erklärt Trainer Rodion. "Hier lernen wir, wie wir diesen Kameraden helfen können, um ihr Leben zu retten."
Denn wenn jemand nicht rechtzeitig Deckung sucht oder nicht in der Lage ist, die richtige Entscheidung zu treffen, kann es schnell gefährlich werden, sagt er.
"Ich war damals wie zerstört"
Rodion arbeitet für die Territorialverteidigung der Ukraine - eine Armeeorganisation, die aus Reservisten und Freiwilligen besteht. Er hat schon 2014 im umkämpften Donbass mit angepackt, um bei der Versorgung der Truppen zu helfen.
"Ich berichte hier nicht nur davon, was ich gesehen, sondern auch, was ich gefühlt habe. Aber ich erzähle nicht nur von mir, sondern auch von anderen. Davon, was die erlebt haben", sagt er. "In einer vertrauensvollen Atmosphäre schauen wir uns die konkreten Fälle und deren Bedingungen an - und wie die Kameraden die Situation bewältigt haben."
Alle, die hier bei dem Fünf-Tage-Kurs dabei sind, werden später zu den verschiedenen Armeebataillonen an die Front geschickt. Um ihr Wissen dort weiterzugeben - denn dort sind schon viele Freiwillige im Einsatz, die keine größeren militärische Vorkenntnisse haben.
Umso wichtiger sei da so ein Resilienz-Training, sagt einer der Kursteilnehmer, der sich als "Eugene" vorstellt. Auch er hat Beschuss und Bombardierungen erlebt, deren Wucht ihn auch innerlich erschüttert haben:
Ich war damals wie zerstört. Zu einem gewissen Zeitpunkt war es mir egal, ob mir etwas zustößt. Wenn ich die Techniken gekannt hätte, die wie hier lernen, wäre ich besser damit zurechtgekommen.
Zahl der PTBS-Patienten steigt
"Nur zu sagen: 'Ja, ich habe Angst!' kann schon helfen", sagt eine Trainerin zur Gruppe. Es gehe darum, sich zu öffnen und Gefühle zuzulassen, um Druck von der Seele zu nehmen.
Jevgeny sieht das genauso. Er ist Psychiater an der Klinik der staatlichen Eisenbahngesellschaft in Kiew. Mit dem Gefühle zulassen sei es in der Armee so eine Sache, sagt er. Die Devise sei vielmehr häufig eine andere: "Man soll stark sein, nicht weinen, keine Gefühle zeigen, kümmere dich nicht um deine Gefühle! Aber wahr ist vielmehr: Je mehr du dagegen ankämpfst, umso mehr musst du dafür mit deiner Gesundheit bezahlen."
Jevgeny weiß, wovon er spricht. Seit Kriegsbeginn im Frühjahr sei die Zahl seiner Patienten deutlich gestiegen, seine psychiatrische Klinik sei nun schon zu 70 Prozent ausgelastet, berichtet er. Unter den Patienten seien viele Soldaten mit der Diagnose Posttraumatische Belastungsstörung, kurz: PTBS. Der Psychiater ist sich sicher: Je länger dieser Krieg andauert, umso mehr Fälle werden es.
Das ist auch der Grund, warum Natalia an dem Präventionskurs der Armee teilnimmt. Die Militärpsychologin ahnt, dass da ein gewaltiges Problem auf das Land zukommt. Und dass sie gut daran tut, ihr Wissen aufzufrischen:
"Natürlich war niemand auf diesen Krieg vorbereitet. Was vorher im Donbass passiert ist, kannst du nicht mit dem vergleichen, was jetzt dort los ist", sagt sie. "Es wird viele Menschen geben, die PTBS haben. Ich möchte gern mehr darüber erfahren, denn wir haben viel Arbeit vor uns."