Ukraine und Russland Kein "Nussknacker", kein "Schwanensee"
Werke russischer Künstler hatten ihren festen Platz im kulturellen Leben der Ukraine. Damit ist es seit dem Angriff Russlands vorbei. Programme werden geändert, Bücher geschreddert - die Debatte darum reicht bis ins Ausland.
Es ist Weihnachtszeit - und damit wäre hier in der Oper von Kiew auch wieder die Zeit für die großen russischen Komponisten, für Prokofjew, Mussorgski oder Tschaikowski. Im vergangenen Jahr haben sie hier noch seinen "Nussknacker" gegeben.
Doch russische Komponisten kommen Anatoliy Solovinianenko erstmal nicht auf den Spielplan. Der künstlerische Leiter des Opernhauses von Kiew sagt, seine Kollegen und er seien da mittlerweile "sehr streng".
Wenn Krieg herrscht, unsere Landsleute getötet und unsere Städte zerstört werden, ist das nicht der richtige Zeitpunkt für diese Art von Musik.
Unmissverständliche Distanzierung
Sein Opernhaus hat dazu eine scharfe Pressemitteilung herausgegeben. Darin heißt es: Ballett-Ensembles aus Kiew, die mit dem "Nussknacker" oder "Schwanensee" durch Europa touren, hätten mit dem Opernhaus von Kiew nichts zu tun.
Solovinianenko ärgert es daher auch, dass die Mailänder Scala erstmals in ihrer Geschichte ihre Saison mit einer russischen Oper eröffnet hat, mit "Boris Godunov" von Modest Mussorgski. Ausgerechnet im Mutterland der Oper geschehe das, merkt Solovinianenko an und fragt rethorisch, was er dazu noch sagen solle.
Ministerpräsidentin Meloni kam zur Aufführung in der Scala - und auch das russische Fernsehen war da.
Auch das Ballett gerät in den Konflikt
Aber so wie die Geschichte der Oper vor allem auch in Italien geschrieben wurde, gilt das für Russland fürs Ballett. Deswegen hat Vjatcheslav Kolomjietz es derzeit nicht leicht. Er leitet die renommierte Ballettschule Serge Lifar in Kiew.
Russische Werke seien immer Teil des Lehrplans gewesen, sagt er. Jetzt seien sie erstmal aus der Schule verbannt. Fast alle seien sich einig, das man sich "zumindest in dieser heißen Phase des Krieges" von der russischen Kultur trenne. "Sie steht für unsere Tränen, unser Blut. Uns geht zu Herzen, was an der Front passiert", sagt Kolomjietz.
Und es müsse "nach der Befreiung unseres Landes" wahrscheinlich noch einige Zeit vergehen, bis man sich in der Ukraine wieder der russischen Kultur widmen könne - einer Kultur, "die uns den Rücken zugewandt hat".
Das Ballett "Giselle" ist hingegen unumstritten in der Ukraine - hier proben Tänzer der Nationaloper in Kiew für eine Aufführung.
Sprache auf dem Index
Auch rein rechtlich wendet sich die Ukraine von Russlands Kultur ab. Seit dem Sommer ist es gesetzlich verboten, in öffentlichen Einrichtungen russisch zu sprechen. Im Fernsehen muss jetzt fast ausnahmslos ukrainisch gesprochen werden - und Bücher, die in Russland herausgekommen sind, dürfen nur noch im Ausnahmefall verkauft werden.
In der Kiewer Traditionsbuchhandlung Sjaivo standen solche Bücher schon vor dem Krieg nicht mehr in den Regalen. Mehr noch: Im August hat sie ihre Kunden dazu aufgerufen, russische Bücher vorbeizubringen, um Altpapier aus ihnen zu machen.
Verkäuferin Irina erzählt, nach einigen Wochen sei es richtig losgegangen: Die Menschen hätten ihre Kofferräume komplett mit Büchern vollgepackt, in der Buchhandlung abgegeben, und die habe sie zur Papierverarbeitung gebracht.
Alles ein Fall für das Altpapier: In einer Buchhandlung in Kiew stapeln sich russische Bücher, die recyclet werden sollen.
Der Erlös geht ans Militär
Es seien tonnenweise Bücher zusammengekommen, sagt Irina. Zeitweise sei alle drei Tage ein großer Lkw gekommen, um die Bücher abzuholen.
Mit den Erlösen habe die Buchhandlung ein Auto für die Streitkräfte in Cherson kaufen können. Jetzt sammeln sie hier für das zweite Auto. Vielleicht, sagt Irina, bekämen die Bücher so "ein zweites Leben - und es werden ukrainische Bücher aus ihnen gemacht".
Ein älterer Mann stapft mit ein paar gefüllten Tüten in den Keller der Buchhandlung, wo die Bücher gesammelt werden. Die Bücher habe er gekauft, als die Ukraine mit Russland noch gute Beziehungen gehabt habe. "Viele Bücher waren mir lieb, aber nach all dem, was passiert ist, will ich von ihnen nichts mehr wissen."
Auch Marina ist vorbeigekommen, um einen Stapel Bücher abzulegen. Sie sagt aber auch, dass es in ihrer großen Bibliothek zu Hause russische Bücher gebe, die ihr lieb und teuer seien und die sie nicht abgebe. "Aber wir können sie jetzt nicht lesen. Es ist zu schmerzhaft, Russisches zu lesen."
Allerdings sind nicht alle Ukrainer von den Verboten überzeugt. Das sei "keine gute Entscheidung", sagt die ukrainische Schriftstellerin und Fotokünstlerin Yevgenia Belorusets gegenüber dem "Deutschlandradio Kultur", äußerte zugleich aber auch Verständnis. Die Ukraine sei "sehr lange Zeit" tolerant gewesen, jetzt aber gehe es darum, dass das Land "praktisch vernichtet wird".
Hinwendung zur ukrainischen Sprache
Die Abwehrhaltung gegen russische Kultur ist allerdings nicht erst durch den russischen Angriffskrieg aufgekommen. Es geht auch um Emanzipation von Russland, so der Linguist und Journalist Les Belej. In der UdSSR sei die Ukraine "stark russifiziert" worden.
Die russische Sprache habe damals als "feiner" gegolten, die Menschen seien vom Ukrainischen ins Russische gewechselt. In den 1980er-Jahren sei in Kiew "komplett russisch" gesprochen worden.
Der Prozess habe sich geändert, nachdem die Ukraine 1991 unabhängig wurde. Heute spreche in Kiew nur noch die Hälfte der Menschen russisch. Und der gleiche Prozess vollziehe sich auch in Städten wie Odessa, Charkiw - und vor 2014 auch in der Region Donezk, die inzwischen von Russland völkerrechtswidrig annektiert wurde.
Instrumentalisiert Russland Autoren?
Aber was haben die russischen Autoren mit Putins Angriffskrieg zu tun? Belej sagt: Zumindest würden sie von Russland instrumentalisiert. Er nennt als Beispiel das Theater von Mariupol. Die russische Armee bombardierte es im März, obwohl dort Hunderte Menschen Schutz gesucht hatten, darunter Kinder. Das Theater wurde zum Massengrab.
Die russischen Besatzer hätten inzwischen einen Zaun um das zerstörte Gebäude gezogen. Darauf gedruckt: die Porträts von russischen Schriftstellern.