Hafenstadt Mariupol Stahlwerk offenbar wieder unter Beschuss
Seit Wochen harren die Menschen in den Kellern des belagerten Stahlwerks in Mariupol aus. Mindestens 100 konnten bei einer Evakuierungsaktion gerettet werden. Doch nun sollen russische Truppen wieder das Feuer eröffnet haben.
Unmittelbar nach der Evakuierung einer Gruppe von Zivilisten aus einem Stahlwerk in der Hafenstadt Mariupol haben russische Truppen nach Angaben der Ukraine den Beschuss der Anlage wieder aufgenommen. Der Beschuss habe wieder eingesetzt, als Einsatzkräfte die Evakuierungsaktion im Werk Asowstal beendet hatten, sagte Brigadegeneral Denys Schlega von der ukrainischen Nationalgarde in einem Fernsehinterview.
Mindestens eine weitere Evakuierungsaktion sei nötig, um alle Zivilisten aus der Fabrikanlage herauszubringen, sagte er weiter. Dutzende Kleinkinder hielten sich noch immer in Bunkern unter dem Werk auf, sagte Schlega. Die Zahl der dort noch festsitzenden Zivilisten schätzte er auf mehrere Hundert, neben fast 500 verwundeten Soldaten und zahlreichen Leichen.
100.000 Menschen sitzen in der Stadt fest
Das Gelände ist der einzige Ort der Stadt, der nicht von russischen Streitkräften kontrolliert wird. Mehrere frühere Versuche, Zivilisten aus Mariupol und dem Stahlwerk herauszuholen, scheiterten wegen russischen Beschusses oder aus Sorge um die Sicherheit entlang der Route. Am Sonntag konnten aber laut ukrainischen Angaben rund 100 Zivilisten das eingekesselten Gelände verlassen. Nach Angaben der Regierung in Kiew seien sie auf dem Weg in das ukrainische Saporischschja. Die russische Seite bestätigte, dass Zivilisten Mariupol verlassen hätten, und sprach von 80 Personen.
Nach Angaben des Stadtrats in Mariupol soll heute eine umfassende Evakuierung der Zivilbevölkerung beginnen. Mit Unterstützung der Vereinten Nationen sollten dann auch Menschen außerhalb des belagerten Stahlwerks in Sicherheit gebracht werden, teilte der Rat mit. In der weitgehend zerstörten Stadt werden noch bis zu 100.000 Menschen vermutet - darunter 1000 in den Kellern unter dem Stahlwerk. Dort sollen auch 2000 ukrainische Kämpfer ausharren.
Selenskyj: "Vernichtungskrieg"
In seiner täglichen Videobotschaft sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, die Evakuierungsaktion aus Mariupol vom Sonntag sei der Beginn eines dringend benötigten Fluchtkorridors. "Ich hoffe, dass alle notwendigen Bedingungen erfüllt sind, um weiterhin Menschen aus Mariupol zu evakuieren", stellte er klar. "Wir werden weiterhin alles tun, um unsere Leute aus Asowstal und aus Mariupol insgesamt zu evakuieren."
Selenskyj hinterfragte auch den Sinn der Invasion Russlands in seinem Land. Der Angriff dauert nun bereits seit zwei Monaten an. "Wie sie ihre Ziele auswählen, beweist einmal mehr, dass der Krieg gegen die Ukraine ein Vernichtungskrieg für die russische Armee ist", sagte Selenskyj. Neben den Angriffen auf zivile Objekte und Wohngebiete würden inzwischen Getreidelager und landwirtschaftliche Betriebe vernichtet.
Verluste schwer einzuschätzen
"Was könnte Russlands strategischer Erfolg in diesem Krieg sein? Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht", sagte Selenskyj. Das zerstörte Leben der Menschen und verbranntes oder gestohlenes Eigentum brächten Russland nichts. "Es wird nur die Zahl derer in der Welt erhöhen, die daran arbeiten, Russland zu isolieren", mahnte er.
23.000 russische Soldaten sind nach ukrainischen Angaben seit Beginn des Kriegs in der Ukraine gefallen. Außerdem seien bereits mehr als 1000 russische Panzer sowie fast 2500 andere Militärfahrzeuge zerstört worden, sagte Selenskyj in seiner Videoansprache. Die tatsächlichen militärischen Verluste sind schwer abzuschätzen. Moskau gesteht bislang mehr als 1000 gefallene Soldaten ein und beziffert seinerseits die Zahl der gefallenen ukrainischen Kämpfer auf mehr als 23.000.
Weiß schraffiert: Vormarsch der russischen Armee. Grün schraffiert: von Russland unterstützte Separatistengebiete. Krim: von Russland annektiert.
Tote in der Region Donezk
In der Region Donezk sind am Sonntag nach Angaben des ukrainischen Regionalgouverneurs vier Zivilisten durch russischen Beschuss getötet worden. Elf weitere seien verletzt worden, schrieb Gouverneur Pawlo Kyrylenko im Messengerdienst Telegram. Die Todesopfer und sieben der Verletzten würden aus der Stadt Lyman gemeldet.
Ein Mensch sei darüber hinaus in der Stadt Bachmut an Verletzungen gestorben, die er in der Region Luhansk erlitten habe. Wie viele Oper es in der zerstörten Hafenstadt Mariupol und in der von prorussischen Separatisten kontrollierten Stadt Wolnowacha gegeben habe, sei unmöglich festzustellen, schrieb Kyrylenko.
Explosionen erschüttern Belgorod
Die südrussische Stadt Belgorod unweit der Grenze zur Ukraine wurde von zwei schweren Explosionen erschüttert. Es gebe zunächst keine Berichte über Schäden oder Opfer, sagte Gouverneur Wjatscheslaw Gladkow nach Angaben der russischen Staatsagentur Tass. Allerdings gebe es Berichte in sozialen Medien über Blitze am Himmel.
Auf Twitter wurden Videoaufnahmen und Berichte über angebliche ukrainische Drohnen über Belgorod und den Einsatz der regionalen Flugabwehr verbreitet, deren Echtheit zunächst nicht unabhängig bestätigt werden konnte.
Warnstufe wegen "Terrorgefahr" verhängt
Seit einigen Tagen häufen sich Berichte über angebliche Angriffe des ukrainischen Militärs auf Ziele in Russland. So soll am Sonntag in der Region Belgorod ein Feuer in einer Anlage des russischen Verteidigungsministerium ausgebrochen sein. Ein Mensch sei leicht verletzt worden, berichtete Regionalgouverneur Gladkow.
Unklar ist, ob der teilweise Einsturz einer Eisenbahnbrücke nahe der russisch-ukrainischen Grenze im Gebiet Kursk mit dem Kriegsgeschehen zusammenhängt. Die russischen Behörden haben in der Region eine erhöhte Warnstufe wegen "Terrorgefahr" verhängt.
Russland bestätigte Angriffe auf den Osten und den Süden des Nachbarlands Ukraine. Im Gebiet Saporischschja seien Flugabwehrraketensysteme vom Typ S-300 zerstört worden, sagte der Sprecher des Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow, in Moskau. Im Gebiet Charkiw seien zwei Kampfflugzeuge abgeschossen worden.