UN zu Gewalt gegen Zivilisten Allein vor Kiew 1000 Leichen gefunden
Die Vereinten Nationen haben sich schockiert über das Ausmaß der Gewalt gegen Zivilisten gezeigt. Die Tötungen könnten vielfach russischen Soldaten zugeschrieben werden, sagte Kommissarin Bachelet. In der Ostukraine halten die Kämpfe an.
UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet hat "eklatante Menschenrechtsverletzungen" in ehemals russisch kontrollieren Gebieten der Ukraine angeprangert. Allein in der Region Kiew seien mehr als 1000 Leichen von Zivilisten geborgen worden, sagte sie bei einer Sondersitzung des UN-Menschenrechtsrats in Genf.
Es gebe ungesetzliche Tötungen und augenscheinliche Massenhinrichtungen in "schockierendem" Ausmaß. Ihrem Büro lägen Informationen über 300 solcher Tötungen vor, sagte Bachelet. Sie rechne mit steigenden Zahlen, da weitere Hinweise hinzukämen. Menschen, die Wasser oder Lebensmittel holen oder fliehen wollten, seien offenbar von Scharfschützen und Soldaten erschossen worden.
Luftangriffe in Wohngebieten
Der Großteil getöteter und verletzter Zivilisten in dem Konflikt gehe auf das Konto des Einsatzes von schwerer Artillerie, Mehrfachraketenwerfern und Luftangriffen in Wohngebieten, sagte Bachelet. Wenngleich beide Kriegsparteien solche Vorfälle zu verantworten hätten, könne die "überwältigende Mehrheit" der Opfer der russischen Armee und verbündeten bewaffneten Gruppen zugeordnet werden.
Weiter seien Hunderte von Schulen und medizinischen Einrichtungen zerstört oder beschädigt worden, so die Menschenrechtskommissarin. Bachelet berichtete von Vergewaltigungen in Gebieten, die unter der Kontrolle russischer Streitkräfte standen. Ein Dutzend Fälle landesweit sei bestätigt. Viele Opfer, ungeachtet ihres Geschlechts, scheuten sich aus Angst und Scham auszusagen.
Resolution fordert Ermittlungen
Bachelet sagte, ihr Büro überprüfe weiterhin Vorwürfe von Menschen- und Völkerrechtsverletzungen. Viele davon könnten Kriegsverbrechen darstellen. Bei seiner Sondersitzung erhöhte der UN-Menschenrechtsrats anschließend den diplomatischen Druck auf Moskau. Eine deutliche Mehrheit verurteilte in einer Resolution die mutmaßlichen Kriegsverbrechen der russischen Truppen.
33 Mitglieder des Gremiums stimmten dafür, China und Eritrea waren dagegen. Zwölf weitere Länder enthielten sich. Zudem sollen Ermittlungen zu Gräueltaten in der Ukraine eingeleitet werden. Der Rat forderte Russland auf, humanitären Helfern umgehend Zugang zu den Menschen zu erlauben, die nach Berichten aus der Ukraine nach Russland verschleppt worden sind. Es handle sich um rund eine Million Menschen, sagte die ukrainische Botschafterin in Genf, Jewhenija Filipenko.
Zuvor hatte die Ukraine bekanntgegeben, einen ersten Kriegsverbrecherprozess gegen einen russischen Soldaten zu eröffnen. Der 21-Jährige wird beschuldigt, aus einem gestohlenen Auto heraus einen Zivilisten erschossen zu haben, teilte die Generalstaatsanwaltschaft in Kiew mit.
UN: 100 tote Kinder in einem Monat
Russland führt seit mehr als zweieinhalb Monaten einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Ziel ist mindestens die vollständige Eroberung der ostukrainischen Gebiete Luhansk und Donezk. Die Vereinten Nationen haben bereits rund 3500 getötete Zivilisten registriert, gehen aber wie die ukrainische Führung von weitaus höheren Opferzahlen aus.
Der Vizedirektor des UN-Kinderhilfswerks Unicef, Omar Abdi, teilte bei einer Sitzung des Sicherheitsrates mit, dass im vergangenen Monat mindestens knapp 100 Kinder gestorben seien. "Und wir glauben, dass die tatsächliche Zahl wesentlich höher liegt", sagte er. Abdi fügte hinzu, dass viele Kinder zudem durch die Kampfhandlungen verletzt wurden. Millionen seien vertrieben worden, Schulen würden angegriffen.
Vorstoß offenbar nicht gestoppt
Russland setzte auch heute seine Luftangriffe auf das Asowstal-Werk in Mariupol offenbar fort. Das berichtet das ukrainische Militär. Auch der Angriffsdruck auf Orte im Osten der Ukraine halte demnach an. Im Lagebericht zum 78. Tag des russischen Angriffskriegs erklärte der ukrainische Generalstab, russische Truppen feuerten mit Artillerie und Granatwerfern auf ukrainische Kräfte bei Saporischschja, wohin zahlreiche Menschen aus Mariupol geflüchtet sind.
Außerdem hätten russische Truppen mit Artillerie auf ukrainische Einheiten nördlich der Stadt Charkiw gefeuert. Russische Angriffe habe es auch in den Regionen Tschernihiw und Sumy im Norden des Landes gegeben.
In den östlichen Landesteilen Donezk und Luhansk, in denen es seit Kriegsbeginn anhaltend zu Kämpfen kommt, verzeichnete das ukrainische Militär einen "teilweisen Erfolg" des russischen Vorstoßes. Ukrainische Truppen hätten neun russische Angriffe zurückgeschlagen und mehrere Drohnen und Militärfahrzeuge zerstört. Die Angaben konnten nicht unabhängig überprüft werden.
In der Region Luhansk zerstörten ukrainische Truppen nach eigenen Angaben zwei Pontonbrücken des russischen Militärs über dem Fluss Siwerskyj Donez. Im Morgenbericht konstatierte der ukrainische Generalstab aber, dass es dem Gegner dennoch gelungen sei, über den Fluss zu gelangen.
Gruppiert der Kreml Truppen neu?
Nach Angaben des britischen Militärs konnte die Ukraine mehrere Städte und Dörfer im Nordosten des Landes von russischen Streitkräften zurückerobern. Das Verteidigungsministerium in London erklärte, Russlands Fokus auf den Donbass, das industrielle Kernland der Ukraine, habe die um die Stadt Charkiw verbliebenen russischen Truppen "verwundbar durch die mobile und hochmotivierte ukrainische Gegenangriffstruppe" zurückgelassen.
Die Briten erklärten in einem in sozialen Netzwerken veröffentlichten Lagebild der Geheimdienste, Russland habe Berichten zufolge Einheiten aus der Region abgezogen, um sich neu zu organisieren und seine Truppen nach heftigen Verlusten wiederaufzustocken. Der Rückzug sei eine "stillschweigende Anerkennung von Russlands Unfähigkeit, wichtige ukrainische Städte einzunehmen, in denen sie mit begrenztem Widerstand der Bevölkerung rechneten."