Britische Organisationen ohne EU-Gelder "Etwa die Hälfte wird kollabieren"
Hilfsorganisationen im Vereinigten Königreich erhielten Milliarden aus dem EU-Sozialfonds. Doch wegen des Brexit endet die Förderung zum April - und London füllt die Lücke nicht. Viele Organisationen werden wohl eingehen.
Ross Anderson kommt seit acht Monaten zu den Kursen und Beratungen der Hilfsorganisation Action Mental Health in Lisburn bei Belfast in Nordirland. Der junge Mann leidet an Depressionen und Angststörungen. Hier hat er verschiedene Kurse besucht.
Das Angebot reicht vom Umgang mit Stress über Computer-Basiswissen bis hin zu Kursen für Menschen, die nicht lesen und schreiben können. Ohne die Angebote der Hilfsorganisation würde ihm vieles fehlen, sagt Anderson: "Ich hätte weniger Selbstvertrauen, mit Menschen zu sprechen, ich hätte weniger Struktur in meinem Leben. Was meine psychische Gesundheit angeht, stünde ich noch auf der Klippe und es könnte jeden Moment vorbei sein. Das hier gibt mir Zukunft."
Johnson versprach Förderung in gleicher Höhe
Doch die Zukunft ist mit einem fetten Fragezeichen versehen. Ende März läuft ein EU-Förderprogramm des Europäischen Sozialfonds für das Vereinigte Königreich aus. Über dieses Instrument erhielt die Organisation mehr als vier Millionen Euro. Die britische Regierung unter Boris Johnson hatte versprochen, dass diese Fördergelder zukünftig in gleicher Höhe vom britischen Staat gezahlt werden sollen.
Doch nur wenige Tage vor dem Ablauf der Förderperiode weiß der Geschäftsführer von Action Mental Health, David Babington, nicht, wie viel Geld die Organisation mit zehn Standorten in Nordirland bekommt - oder ob sie überhaupt etwas bekommen wird. Er befürchtet, dass die Angebote stark zurückgefahren werden müssen.
Ross Anderson (links) kommt seit Monaten zu den Kursen und Beratungen der Hilfsorganisation Action Mental Health. Geschäftsführer David Babington weiß nicht, ob er weiter Fördergelder bekommen wird und sein derzeitiges Programm weiterführen kann.
Unsicherheit ist riesig
"1000 Menschen betreuen wir jeden Tag, und es besteht die Gefahr, dass die nicht mehr kommen können. Viele wüssten nicht, wohin", sagt Babington. Er ergänzt, dass sie eng mit den fünf Organisationen des staatlichen Gesundheitsdienstes NHS zusammenarbeiteten, der Betroffene an sie verweisen würde. Die Mitarbeiter des NHS wüssten nicht, was sie mit den Menschen sonst machen sollten.
Die Unsicherheit ist riesig, nicht nur für die Hilfsorganisation Action Mental Health. Insgesamt 67 Einrichtungen mit 1700 Beschäftigten in ganz Nordirland sind betroffen - sowie zahlreiche weitere in Wales, England und Schottland.
"Jetzt wissen wir: Das wird nicht passieren"
In den Jahren seit 2014 erhielten die Organisationen im Vereinigten Königreich insgesamt mehr als fünf Milliarden Euro. Andrew Irvine ist Geschäftsführer der Hilfsorganisation East Belfast Mission.
Er hat für etwa 22 verschiedene Einrichtungen Gespräche mit staatlichen Stellen geführt und sagt: "Die Regierung des Vereinigten Königreichs hatte unter Boris Johnson versprochen, dass ein britischer Fonds die EU-Zahlungen ersetzen würde - zu 100 Prozent. Jetzt wissen wir: Das wird nicht passieren."
Förderung günstiger als Sozialhilfezahlungen
Im nächsten Jahr würden aus diesem neuen Fonds nur etwa 22 bis 26 Millionen Euro für Nordirland zur Verfügung stehen. Das sei ein Rückgang von 50 Prozent. Etwa die Hälfte der Hilfsorganisationen werde kollabieren, befürchtet Irvine. Er selbst musste gerade 14 seiner etwa 100 Angestellten entlassen, weitere könnten folgen.
In der East Belfast Mission geht es vor allem um Unterstützung bei der Wohnungssuche, Berufsausbildung, Jobsuche - und das in einem Stadtteil, in dem die Arbeitslosigkeit sehr hoch ist. Irvine ist verärgert über die Ignoranz der Regierung: "Es kostet uns 700 Euro, jemandem eine Anstellung zu beschaffen. Es macht doch keinen Sinn, das einzustellen, und stattdessen Sozialhilfe zu zahlen, was viel teurer ist."
In dieser Gegend von Belfast sei zudem der Einfluss paramilitärischer und krimineller Gruppen sehr groß. "Jemanden im Gefängnis zu versorgen ist auch teuer. Das macht einfach keinen Sinn." David Babington hat ausgerechnet, dass die Arbeit der Organisation Action Mental Health dem Staat pro Jahr etwa 80 Millionen Euro einspart. Er ist enttäuscht von der Politik.
Nordirland ohne Regionalregierung
Erschwerend kommt hinzu, dass es derzeit keine Regionalregierung in Nordirland gibt. Eine Partei, die unionistische DUP, blockiert eine Regierungsbildung. Sie macht den Eintritt in eine Regierung von der eigenen, und bis dato ausstehenden, Zustimmung zum Windsor Framework abhängig, einer Vereinbarung, die Premierminister Rishi Sunak gerade erst mit der EU getroffen hat.
"Gäbe es eine Regierung, könnten wir vielleicht wenigstens eine Zwischenlösung finden", sagt Babington. "London sieht uns als Seitenveranstaltung, wir sind vergessen - wie die, die wir betreuen. Das ist sehr traurig."