Analyse

Tauziehen um Visafreiheit für Türken Druckmittel Drohgebärde

Stand: 01.08.2016 18:44 Uhr

Es ist nicht das erste Mal, dass die Türkei auf Visaerleichterungen pocht - und andernfalls damit droht, das Flüchtlingsabkommen mit der EU platzen zu lassen. Das würde zwar schwierig, doch man sollte die Drohungen ernst nehmen.

Von Sonja Keilmann, tagesschau.de

Wieder einmal droht Ankara der EU, wieder einmal werden dabei Visaerleichterungen mit dem Flüchtlingsabkommen verknüpft: Vor Außenminister Mevlüt Cavusoglu taten das auch schon Burhan Kuzu, der Berater des türkischen Präsidenten, und sogar Recep Tayyip Erdogan selbst. Dennoch sollte man die Drohungen nicht unterschätzen, sagt der ARD-Korrespondent in Istanbul, Reinhard Baumgarten.

Denn die Visafreiheit besitzt für den Präsidenten einen hohen Stellenwert: Er versprach sie schon vor Jahren seinen Landsleuten. Derzeit sieht es mit der Umsetzung allerdings schlecht aus: Sie ist an 72 Bedingungen geknüpft - und fünf Punkte sind auf Seiten der Türkei noch offen, darunter ein besserer Kampf gegen Korruption und die Zusammenarbeit bei Strafermittlungen und Auslieferungen. Baumgarten hält bei vier der Bedingungen Kompromisse für wahrscheinlich, nicht jedoch bei der geforderten Entschärfung der Anti-Terror-Gesetze.

Bislang unerfüllte Forderungen für eine Visafreiheit
Die EU-Kommission sah in ihrem jüngsten Bericht noch fünf der 72 Vorgaben für eine Visaliberalisierung als nicht erfüllt an.
- Kampf gegen Korruption: In der Türkei wurde am 30. April eine neue Strategie dazu beschlossen. Im jüngsten Bericht stellten Experten der EU-Kommission allerdings fest, dass noch mehr getan werden müsse, um Korruption unter Parlamentariern, Richtern und Staatsanwälten zu verhindern.
- Zusammenarbeit bei Strafermittlungen und in Auslieferungsfragen: Laut der Darstellung im Fortschrittsbericht hatten die türkische Behörden bis zuletzt lediglich die Absicht erklärt, künftig enger mit den Behörden in EU-Staaten zusammenzuarbeiten
- Abschluss und Umsetzung eines Kooperationsabkommen mit Europol: Bei der jüngsten offiziellen Bestandsaufnahme lag der EU lediglich eine Absichtsbekundung der Türkei vor.
- Schutz personenbezogener Daten nach EU-Standard: Ein im Frühjahr beschlossenes Gesetz entspricht nach Auffassung der EU-Kommission nicht den Anforderungen. Es sei nicht sichergestellt, dass die Datenschutzbehörde unabhängig handeln könne, so die Kritik.
- Entschärfung der Anti-Terror-Gesetzgebung: Die EU verlangt von der Türkei, den geltenden Rechtsrahmen und die Standards zur Bekämpfung von organisierter Kriminalität und Terrorismus zu überarbeiten. So soll unter anderem die Definition von Terrorismus enger gefasst werden, um auszuschließen, dass auch missliebige Journalisten oder politische Gegner verfolgt werden können.

"Aus Sicht der EU wurden schon vor dem Putschversuch so viele Menschen zu Terroristen erklärt, dass Brüssel dahinter Willkür vermutet", sagt der ARD-Korrespondent. Betroffen gewesen seien beispielsweise regierungskritische Journalisten und Akademiker, die sich für den Friedensprozess mit den Kurden ausgesprochen hatten. "Ankara sagt wiederum, wir brauchen die Gesetze in dieser Form, um gegen Terroristen vorzugehen", so Baumgarten weiter. "Der Streit darüber hat sich inzwischen dermaßen hochgeschaukelt, dass die Fronten verhärtet sind."

Keine Garantie für die Umsetzung

Und die Türkei hat noch ein Problem beim Thema Visaerleichterung. Unter dem damaligen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu sei lediglich vereinbart worden, schneller darüber zu verhandeln, berichtet der ARD-Hörfunkkorrespondent in Brüssel, Andreas Meyer-Feist. Aber es gebe keine Garantie für die Umsetzung - und die Türkei könne schon gar nicht die Bedingungen diktieren.

So versucht die türkische Regierung offenbar auf anderen Wegen Druck auszuüben: Das Flüchtlingsabkommen kommt ins Spiel - denn auch darin sind schnellere Verhandlungen über Visaerleichterungen thematisiert. Doch könnte Ankara den Pakt tatsächlich einseitig aufkündigen? "Nein", sagt Meyer-Feist, "die Verträge sind unterzeichnet, und beide Seiten müssen sich daran halten."

Aus Brüsseler Sicht wurden bislang auch alle Bedingungen erfüllt: "Die EU hat bereits etwa 100 Millionen Euro an Hilfsorganisationen in der Türkei bezahlt, an gemeinsam ausgesuchte Projekte in den Bereichen Gesundheit und Bildung, weitere zwei Milliarden wurden bereits festgelegt", berichtet der Brüssel-Korrespondent weiter. Außerdem seien bei den EU-Beitrittsverhandlungen zwei neue Kapitel aufgeschlagen worden, die Rückführung von Flüchtlingen sei in Kraft getreten und die Türkei habe erfolgreich den Kampf gegen Schlepper aufgenommen.

EU will hart bleiben

"Die EU sieht die Drohungen daher sehr gelassen und will sich auch weiterhin nicht beeindrucken lassen, sondern auf der Einhaltung der 72 Punkte bestehen", sagt Meyer-Feist und ist überzeugt: "Präsident Erdogan versucht derzeit auszutesten, wieviel er noch herausschlagen kann. Die Milliardenhilfen der EU für Projekte würde er beispielsweise gerne selbst verwalten. Derzeit fließen sie direkt an Organisationen wie die Deutsche Welthungerhilfe oder Caritas International."

Dass der Präsident seine Drohungen wahrmacht, hält er deshalb für unwahrscheinlich. "Erdogan will das Flüchtlingsabkommen, die Visaerleichterungen und die Hilfsgelder", so Meyer-Feist. Dieser Ansicht ist auch sein Kollege Baumgarten, schränkt jedoch ein. "Was die Türkei tatsächlich machen könnte ist, den Kampf gegen Schlepper wieder zu vernachlässigen. Die Zahlen von nach Griechenland übersetzenden Flüchtlingen sind derzeit nur noch zwei- statt drei- bis vierstellig pro Tag."

Doch für ein echtes Druckmittel hält er das nicht: "Viele Flüchtlinge haben inzwischen gemerkt, dass die Grenzen geschlossen sind und sie praktisch kaum eine Chance haben, beispielsweise von Griechenland aus in andere EU-Länder weiterzureisen." Und aktive Fluchthilfe könne die Türkei nicht betreiben - denn das verstoße gegen internationales Recht.