Rettungsaktionen im Mittelmeer Ungewollte Hilfe für die Schlepperbanden?
Es ist ein heftiger Vorwurf: Indem sie Flüchtlinge im Mittelmeer retten, würden Hilfsorganisationen Schlepper unterstützen.
Das sagt Frontex-Chef Leggeri. "Ärzte ohne Grenzen" wehrt sich und nennt die Vorwürfe "zynisch".
Ganz neu ist der Vorwurf nicht - doch so hart wie jetzt hat ihn der Chef der EU-Grenzschutzbehörde Frontex noch nie formuliert: "Wir müssen verhindern, dass wir die Geschäfte der kriminellen Netzwerke und Schlepper in Libyen nicht noch dadurch unterstützen, dass die Migranten immer näher an der libyschen Küste von europäischen Schiffen aufgenommen werden", mahnt Fabrice Leggeri im Interview mit der "Welt".
Ein Vorwurf, der an die Adresse der Hilfsorganisationen geht. Und gegen den sich der Geschäftsführer von "Ärzte ohne Grenzen" in Deutschland, Florian Westphal, im Interview mit dem ARD-Studio Brüssel zur Wehr setzt.
Das Schlepperwesen funktioniere nur deshalb so gut, weil es für Schutzsuchende keine andere Chance gebe, nach Europa zu gelangen. Denn die EU habe es versäumt, legale und sichere Wege für Asylsuchende zu schaffen: "Das Geschäftsmodell der Schlepper funktioniert nur deshalb, weil es für diese Menschen keine Alternative gibt, als unter enormer Gewalt oft ihre gesamten Ersparnisse dafür einzusetzen, ihre Leben auf einem löchrigen Schlauchboot im Mittelmeer aufs Spiel zu setzen."
40 Prozent der Rettungsaktionen von NGOs
"Zynisch" findet es Westphal, dass man nun ausgerechnet jenen Organisationen vorwerfe, das Problem zu sein, die diese Menschen zu retten versuchten.
Fest steht, dass die Schlepper in letzter Zeit dazu übergehen, immer mehr Flüchtlinge in immer seeuntauglichere Schlauchboote zu pferchen. Offenbar spekulieren sie darauf, dass die Schutzsuchenden von europäischen Schiffen aufgelesen werden, sobald sie die libyschen Küstengewässer verlassen haben. In letzter Zeit seien es Hilfsorganisationen, die 40 Prozent aller Rettungsaktionen vor Libyen im Mittelmeer durchführen würden, rechnet Frontex-Chef Leggeri vor.
Folter und Misshandlung ausgesetzt
Doch "Ärzte ohne Grenzen"-Geschäftsführer Westphal glaubt nicht, dass so viele Menschen diese lebensgefährliche Reise auf sich nehmen, weil sie davon ausgehen, gerettet zu werden.
Sie flöhen vielmehr aus Libyen, weil sie in diesem Land Folter und Misshandlung ausgesetzt seien: "Wir haben gerade einen Bericht veröffentlicht, in dem wir uns auf die Gespräche mit Eritreern beziehen. Was die aus Libyen berichten, ist wiederholte Folter und Gefangennahme. Praktisch jede der 60 Frauen, die wir gesprochen haben, hat auf ihrem Fluchtweg oder in Libyen selbst sexuelle Gewalt erfahren oder weiß von einer anderen Frau, die Opfer von Vergewaltigung oder anderem war."
EU-Schiffe gegen kriminelle Banden machtlos
Westphal hält es für ein "Armutszeugnis" der Mittelmeerstaaten, dass Hilfsorganisationen in weiten Teilen die Rettungsarbeit übernommen haben. "Ärzte ohne Grenzen" ist üblicherweise in der Region mit drei Schiffen im Einsatz.
Klar ist aber auch, dass die EU - etwa mit ihrer Marine-Mission "Sophia" - regelmäßig Menschen vor dem Ertrinken rettet. Die Europäische Union hofft darauf, dass eines Tages die libysche Küstenwache selbst diese Aufgabe und auch den Kampf gegen die Schlepper übernehmen kann. Denn weil EU-Schiffe nicht direkt vor der libyschen Küste operieren dürfen, sind sie gegen die kriminellen Banden bislang weitgehend machtlos.
Gleichzeitig warnen EU-Mitgliedsstaaten immer wieder, dass dies Europa in ein Dilemma stürze. Budesinnenminister Thomas de Maizière sagte beispielsweise: Die Rettung sei zwar "erforderlich und dringend geboten" - aber sie stärke auch das Schlepper-Geschäftsmodell.
Der neue EU-Parlamentspräsident Tajani ist für Auffanglager in Libyen.
Welches ist der Weg aus dem Dilemma?
Daher sucht die EU nun nach Wegen, diesem Dilemma zu entkommen. Der Martin-Schulz-Nachfolger als Parlamentspräsident, Antonio Tajani, spricht sich aktuell für Auffanglager in Libyen selbst aus. Doch die sind umstritten - auch rechtlich. Jedenfalls spricht wenig dafür, dass sich die Idee schnell umsetzen lässt. Auch die Ausbildung der libyschen Küstenwache soll Migranten von Europa fern halten. Weil die EU-Marineschiffe selbst nicht direkt vor der libyschen Küste operieren dürfen, sind sie gegen die kriminellen Banden bislang weitgehend machtlos.
Die ersten 90 libyschen Rekruten sind ausgebildet. Doch immer wieder gab es zuletzt Befürchtungen, zumindest einige von ihnen könnten womöglich zu den Menschenschmugglern überlaufen. Ob man in dem Bürgerkriegsland also überhaupt eines Tages wirkungsvoll gegen Schlepper wird vorgehen könne, ist weiter fraglich.