Stimmungsbild vor dem Brexit-Referendum "Ein gespaltenes Land voller Angst"
Nur wenige Stunden vor Beginn des Referendums steigt die Spannung in Großbritannien. ARD-Korrespondentin Julie Kurz berichtet im Interview mit tagesschau.de von einem tief gespaltenen Land. Die Kampagnen würden vor allem das Gefühl der Angst schüren.
tagesschau.de: Wie erleben Sie die Stimmung in Großbritannien so kurz vor der Abstimmung über den Brexit? Gibt es überhaupt noch ein anderes Thema?
Julie Kurz: Das Referendum ist das große Thema und beherrscht die Medienberichterstattung genauso wie die Pubgespräche. Das kann einen nicht wundern. Es geht schließlich um nicht mehr und nicht weniger als die Zukunft der Briten. Auch wenn es nach dem schrecklichen Tod der Abgeordneten Jo Cox einen Moment des Innehaltens gab - insgesamt war der Wahlkampf sehr aggressiv und sehr aufgeheizt.
Das Referendum spaltet das ganze Land. Über die Frage "In or out?" zerstreiten sich Familien und Freunde. Das wächst sich zu einem Generationskonflikt aus, weil die Jüngeren eher pro EU sind, die Älteren aber mehr zu den Euro-Skeptikern zählen.
tagesschau.de: Inwieweit ist diese emotionale Diskussion womöglich auch durch Besonderheiten der britischen Geschichte und des britischen Selbstverständnisses geprägt?
Kurz: In der Tat spielen Fakten eine eher untergeordnete Rolle. Viele Menschen beklagen das, weil sie sich nicht richtig informiert fühlen. Das liegt aber auch daran, dass niemand sicher vorhersagen kann, was passiert, wenn sich die Briten für den Austritt aussprechen. Wahrscheinlich folgen Jahre der Unsicherheit. Beide Seiten nutzen das, um Schreckensszenarien in den düstersten Farben zu malen. Das vorherrschende Lebensgefühl, das die Kampagnen verbreiten, ist Angst.
Tatsache ist auch, dass die Beziehung von Großbritannien und der EU immer kompliziert war. Als die Briten 1973 der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beitraten, befand sich das Land in einer Wirtschaftskrise. Die Wirtschaft stand und steht immer im Vordergrund. Bis heute haben die Briten zur EU vor allem ein rationales Verhältnis. Darin spiegelt sich auch die Distanz wider, die Großbritannien als Insel zum Kontinent hat.
Migranten und EU als Sündenbock
tagesschau.de: Was unterscheidet das Stimmungsbild in der Hauptstadt London von dem im Rest des Landes?
Kurz: London ist eher für den Verbleib in der EU, auch wenn man durchaus EU-kritische Stimmen hört. Wenn man aber zum Beispiel nach Boston in der Grafschaft Lincolnshire fährt, wo viele EU-Migranten als Billigkräfte arbeiten, erlebt man einen massiven Euro-Skeptizismus, der sich vor allem aus der Ablehnung von Zuwanderung speist.
In Gegenden wie Blackpool an der Nordwestküste fühlen sich die Menschen häufig ohnehin von London abgehängt und kritisieren, dass sie keine Chance haben, ihren Lebensstandard zu verbessern. Eigentlich ist das ein Problem der britischen Regierung. Hinhalten muss dafür die EU. EU und Migranten sind oft genug der Sündenbock für alles, was in Großbritannien falsch läuft.
Befürworter des britischen Austritts aus der EU ...
tagesschau.de: Nordiren, Waliser und Schotten gelten gemeinhin als Brexit-Gegner. Wie viel Gewicht hat ihre Meinung?
Kurz: Diese Meinung hat schon Gewicht, vor allem die der Schotten. Das sind zwar nur knapp fünf Millionen Menschen, die aber über ein erhebliches Drohpotenzial verfügen. Sollte Großbritannien gegen den schottischen Willen aus der EU austreten, wird es wahrscheinlich eine erneute Abstimmung geben, und zwar ein zweites Mal über die Frage der schottischen Unabhängigkeit. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass das Vereinigte Königreich auseinander bricht.
Mittwoch 22 Uhr: Letzte TV-Debatte auf Channel 4 zum Brexit mit Brexit-Befürworter Nigel Farage
Donnerstag 08 Uhr: Eröffnung der Wahllokale
Donnerstag 23 Uhr: Schließung der Wahllokale und Beginn der Auszählung
Nacht zum Freitag: Ergebnisse der 382 Wahlbezirken werden nach und nach bekannt gegeben.
Freitagmorgen: Die Wahlkommission veröffentlicht ein vorläufiges Endergebnis
Freitag 11 Uhr: EU-Spitzenvertreter treffen sich in Brüssel, um über den Ausgang des Referendums zu beraten.
Gewaltige Aufgabe für Cameron
tagesschau.de: Unabhängig vom Ausgang – welche Folgen hat die heftige Brexit-Diskussion jetzt schon? Wie kann es gelingen, die tiefe Spaltung des Landes zu überwinden?
Kurz: Auf Premierminister David Cameron kommt eine gewaltige Aufgabe zu, die bei seiner eigenen Partei, bei den Konservativen beginnt. Er als der EU-Befürworter muss auch nach dem Referendum mit EU-Gegnern umgehen, sollten sich die Briten für den EU-Verbleib aussprechen.
Ich halte es für wahrscheinlich, dass Cameron es mit einer Politik des Umarmens versucht und den Gegnern zum Beispiel eine prominente Position im Kabinett anbietet. Die Frage bleibt aber, wie sehr sich eine Figur wie Boris Johnson einbinden lässt. Der ehemalige Bürgermeister von London ist ja Camerons bedeutendster Gegenspieler und hätte wohl nichts dagegen, ihn als Premier zu beerben. Denn auch über die Zukunft Camerons nach dem Referendum ist das letzte Wort noch lange nicht gesprochen.
Das Interview führte Ute Welty, tagesschau.de