Interview mit liberalem Ex-KP-Politiker Bao "1989 starb die Volksrepublik China"
Bao Tong war 1989 ein hochrangiges Mitglied des liberalen Flügels der chinesischen KP. Als die Führung die Studentenproteste niederzuschlagen begann, wurde er ins Gefängnis geworfen. Im Interview mit ARD-Korrespondentin Christine Adelhardt erklärt er das damalige Vorgehen Deng Xiaopings und die Folgen für China.
ARD: Wie war 1989 das politische und soziale Klima, das zu den Studentenprotesten führte?
Bao Tong: 13 Jahre zuvor war Mao gestorben. Damit hatte China die Chance, sich anders zu entwickeln. Und in den 13 Jahren seit Maos Tod war China einen anderen Weg gegangen. Die Studenten wollten, dass man den Schatten Maos völlig hinter sich lässt, damit China eine Demokratie werden und die Korruption beendet werden kann. So würden die Chinesen ein besseres Leben haben und mehr Freiheit.
Bao Tong war 1989 Berater von Zhao Ziyang, dem Generalsekretär der Kommunistischen Partei und damit einer der mächtigsten Männer Chinas. Bao Tong gehörte - ebenso wie Zhao Ziyang - dem liberalen Flügel der Partei an. Deng Xiaoping - damals Vorsitzender des Militärausschusses - war dagegen für ein hartes Durchgreifen gegen die Studenten. Deng schaltete seine Gegenspieler aus. Bao Tong musste für sieben Jahre ins Gefängnis. Seit seiner Entlassung 1996 wird er rund um die Uhr von der Polizei überwacht.
ARD: Wie wurde der Protest der Studenten damals innerhalb der Kommunistischen Partei und der Führungsriege gesehen und bewertet?
Tong: Es gab unterschiedliche Auffassungen. Zhao Ziyang, der Generalsekretär der Partei, hielt die Forderungen der Studenten für berechtigt. Er meinte, dass man ihnen entgegenkommen müsse. Dass das für eine Regierung ganz normal sei, mit den Studenten über Lösungen der Probleme zu diskutieren. Deng Xiaoping dagegen war der Meinung, dass die Studenten Befehlen zu gehorchen hatten und dass sie kein Recht hatten, Forderungen zu stellen.
"Es gab keinen Aufruhr"
ARD: Der Einsatz der Armee gegen die Bürger wird von der Kommunistischen Partei bis heute damit begründet, dass ein Aufruhr verhindert werden musste. Stimmt das?
Tong: Deng Xiaoping glaubte, dass sich der Protest gegen ihn richtet, dass er hart durchgreifen muss und keine Schwäche zeigen darf, weil die Studenten sonst immer mehr fordern würden. Er befürchtete, seine Macht zu verlieren und die Kontrolle. Natürlich hat er das so nicht gesagt. Offiziell hieß es, dass ein Aufruhr verhindert werden müsse. Die Armee sollte Ruhe und Ordnung wieder herstellen. Aber es gab keinen Aufruhr. Das einzige Problem war, dass Deng nicht mit den Studenten übereinstimmte.
ARD: Haben Sie damit gerechnet, dass tatsächlich scharf geschossen werden würde?
Tong: Ich dachte zunächst, Deng Xiaoping wolle die Studenten und Zivilisten mit der Armee nur einschüchtern. Ich hätte niemals geglaubt dass er - ein Mitglied der Kommunistischen Partei, der sich als Revolutionär bezeichnete - tatsächlich anordnen würde zu schießen. Soldaten der eigenen Armee, die auf Studenten schießen! Das ist unglaublich.
"Dieses China ist tot"
ARD: Wann haben Sie davon erfahren?
Tong: Ich wusste erst gar nichts davon, denn am 28. Mai – ich wollte gerade zu einer Sitzung des Ständigen Ausschusses des Politbüros – haben sie mich in ein Auto gesteckt und ins Gefängnis gebracht. Dort konnte ich die Schüsse nicht hören und durfte keine Zeitungen lesen. Erst Tage später haben sie mir die Zeitung vom 4. Juni gegeben. Da habe ich gewusst: China ist nicht mehr länger eine Volksrepublik. Dieses China ist tot.
ARD: Warum wurden Sie verhaftet?
Tong: Ich weiß es nicht, bis heute nicht. Ich denke, Deng Xiaoping hat das angeordnet, denn niemand anderer konnte so einen Befehl erlassen. Kein anderer hatte so viel Macht. Es gab keinen Haftbefehl, keine rechtliche Grundlage. Das war ein Verstoß gegen die chinesische Verfassung. Ich saß zweieinhalb Jahre im Gefängnis und sie haben mir nie gesagt warum. Das ist China. Das ist das sogenannte "Gesetz" in China.
ARD: Ihnen wurde dann der Prozess gemacht und sie wurden zu sieben Jahren Haft verurteilt, warum?
Tong: Auch das weiß ich nicht. Sie haben sieben Jahre gesagt und dann sind es eben sieben Jahre. Das ist das Gerichtssystem "chinesischer Ausprägung". Es bedeutet, dass die, die an der Macht sind, das letzte Wort haben. Ich glaube, dass selbst die Richter nicht wussten, warum sie mich verurteilt haben. Aber wenn ein Richter den Befehl erhält, eine Gefängnisstrafe auszusprechen, dann wird einfach ein Verbrechen konstruiert.
"Ich war der Erste, der 1989 ins Gefängnis kam"
ARD: Wie ist es Ihnen in der Haft ergangen?
Tong: Ich habe nie einen anderen Gefangenen zu Gesicht bekommen und ich war namenlos. Sie haben mich nie Bao Tong genannt, sondern immer nur 8901, weil ich der Erste war, der 1989 ins Gefängnis kam. Sie haben mich in drei Schichten rund um die Uhr überwacht. Meine Tür war immer offen. Davor war ein Tisch. Darauf lag ein Notizbuch. Darin haben sie eingetragen, was ich mache. Minutengenau. Zum Beispiel: 13.01 Uhr: Er liest. 13.02 Uhr: Er liest. 13.03 Uhr: Er liest. 13.05 Uhr: Er steht auf. 13.06 Uhr: Er setzt sich wieder hin. Sieben Jahre lang. Und das Licht war immer an, auch in der Nacht. Und ich war immer allein. Einmal im Monat durfte mich meine Frau besuchen.
ARD: Was geschah nach Ihrer Entlassung?
Tong: Seit ich aus dem Gefängnis entlassen wurde, werde ich 24 Stunden rund um die Uhr überwacht, 365 Tage im Jahr. Immer wenn ich das Haus verlasse, werde ich verfolgt, von Männern zu Fuß und in einem Auto, weil sie Angst haben, ich könnte in ein Taxi steigen. Man kann das vielleicht nicht "Hausarrest" nennen, weil ich aus dem Haus gehen darf. Aber ich werde immer verfolgt.
ARD: Sie haben die Charta 08 unterzeichnet, die Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo geschrieben hat und wofür er jetzt im Gefängnis sitzt. Warum?
Tong: Weil ich glaube, dass China eine solche Verfassung braucht. Nur so kann China zu einer zivilisierten Nation werden. Ohne solch eine Verfassung werden Tragödien wie der 4. Juni immer wieder geschehen.
ARD: Der 4. Juni '89 ist in China immer noch ein Tabu. Warum?
Tong: Ich glaube, sie haben Angst, sich der Wahrheit zu stellen. Sie hoffen, dass alle Chinesen das Ereignis vergessen, denn sie wissen, was für ein beschämendes Ereignis das war. Obwohl sie immer wieder sagen, dass es die richtige Entscheidung war, dass so Chinas Aufstieg ermöglicht wurde. Ich weiß, dass das Unsinn ist und sie selbst nicht daran glauben. Sie wissen, dass sie ein Verbrechen begangen haben und hoffen nun, dass alle es vergessen werden. Sie reden immer wieder davon die "Stabilität" des Landes zu gewährleisten. Aber tatsächlich wollen sie ihre Macht bewahren und die politische Führung, die nicht durch Wahlen legitimiert ist, sondern dem chinesischen Volk oktroyiert ist.
"Chinas Wirtschaft wuchs nicht wegen der Unterdrückung"
ARD: Auch im Westen gibt es Leute, die behaupten, die Niederschlagung des Aufstandes sei legitimiert gewesen, um den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas zu ermöglichen.
Tong: Das ist ein Märchen und Blödsinn. Die chinesische Wirtschaft ist nicht wegen der Unterdrückung gewachsen, sondern weil die wirtschaftlichen Einschränkungen, die Mao und Deng Xiaoping eingeführt hatten, abgeschafft wurden. Und das Wirtschaftswachstum Chinas ist das Ergebnis harter Arbeit von 1,3 Milliarden Menschen. Deng Xiaoping, sein Sohn und sein Enkel haben nichts dazu beigetragen, aber sie haben ein riesiges Vermögen angehäuft. Seine Tochter und sein Sohn besitzen Milliarden.
ARD: Wie geht es Ihrer Familie?
Tong: Mein Sohn lebt in Hongkong. Früher durfte er mich jedes Jahr zum Frühlingsfest besuchen. Manchmal auch zweimal im Jahr. Seit dem 18. Parteikongress (Seit diesem Kongress 2012 ist Xi Jinping Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas. Anm. d. Red.) bekommt er keine Einreiseerlaubnis mehr.
ARD: Glauben Sie, dass sich unter der neuen Regierung von Xi Jingping etwas ändern wird?
Tong: Ich weiß es nicht. Ich bin kein Hellseher. Was ich bisher gesehen habe ist, dass die Kontrolle immer strenger wird anstatt lockerer. Dennoch hoffe ich, dass meine Kinder in einer Gesellschaft leben werden, in der das Gesetz gilt. Eine Gesellschaft mit Gerechtigkeit und Fairness. Ich hoffe, dass dieser Tag für das chinesische Volk kommen wird.
Das Interview führte Christine Adelhardt, ARD-Studio Peking.