Streit über Flüchtlingspolitik "Der europäische Kitt bröckelt"
Nach wie vor kann sich die EU nicht über eine Quote für die Verteilung von Flüchtlingen verständigen. ARD-Korrespondent Rolf-Dieter Krause erklärt im Interview mit tagesschau.de, warum dieser Streit für Europa weitaus gefährlicher ist als die Griechenlandkrise.
tagesschau.de: Europa hat sich bislang durch eine enorme Kompromissfähigkeit ausgezeichnet, die aber in der Flüchtlingskrise offenbar nicht greift. Ist das auch Ihr Eindruck?
Rolf-Dieter Krause: Es ist nicht Europa, das nicht funktioniert. Es sind die Regierungen der Mitgliedsstaaten, die sich nicht einigen. Und ja: Der Wille zum Kompromiss ist nicht so groß, wie er für eine Europäische Union erforderlich wäre.
tagesschau.de: Warum ist die EU in dieser Flüchtlingskrise so wenig handlungsfähig? In Bezug auf Griechenland konnte man sich immer noch auf einen kleinen, aber dann doch gemeinsamen Nenner einigen?
Krause: In Bezug auf Griechenland hat man das deswegen hinbekommen, weil niemand direkt merkt, was die EU für Griechenland leistet. Das Geld für Griechenland wird auf dem Kapitalmarkt aufgenommen, und der europäische Steuerzahler tut nichts anderes, als für die Rückzahlung zu garantieren. Würde eine Sondersteuer für Griechenland erhoben, würde das jedermann spüren, und dann wären die Widerstände auch ganz andere. Fast jedermann spürt es aber, wenn es darum geht, Menschen aufzunehmen, womöglich Menschen aus einem anderen Kulturkreis aufzunehmen.
tagesschau.de: Vor allem die östlichen EU-Länder wehren sich dagegen, Flüchtlinge aufzunehmen. Wie tief geht dieser Riss zwischen Ost und West?
Krause: Das muss man abwarten. Ich halte es noch nicht für ausgemacht, wo dieser politische Prozess endet, zumal nicht alle Mitgliedsstaaten im Osten dieselbe Haltung vertreten. Aber die Gefahr eines Risses besteht. Der Kitt, der die EU zusammenhält, bröckelt. Denn die EU definiert sich eben nicht nur durch Verträge und Regeln, sondern auch über den gemeinsamen Geist, und der ist erkennbar nicht überall derselbe.
Gemeinsame Vorteile, aber auch gemeinsame Lasten
tagesschau.de: Muss man daraus den Schluss ziehen, dass die EU-Osterweiterung voreilig war?
Krause: Sicher ist es nicht einfach, zehn oder zwölf Länder zu integrieren, aber ich warne vor Arroganz. Eine EU-Mitgliedschaft hat auch immer den Zweck, eine junge Demokratie zu stabilisieren. Die ersten, die davon profitierten, waren übrigens die Deutschen. Aber: Die EU ist eben nicht nur ein System gemeinsamer Vorteile, sondern auch gemeinsamer Lasten. Das haben die meisten nicht gesehen, die sich der EU freiwillig angeschlossen haben.
Das Problem besteht darin, dass man nie über den Zeitpunkt des Beitritts hinaus gedacht hat. Dass nie jemand damit gerechnet hat, dass Beitrittskriterien nach dem Beitritt nicht mehr eingehalten werden. Ungarn könnte heute nicht mehr beitreten – die Pressefreiheit etwa besteht in diesem Land ja nur noch auf dem Papier.
tagesschau.de: Haben es Europa und auch Deutschland versäumt, Länder wie Italien und Griechenland bei der Aufnahme von Flüchtlingen hinreichend zu unterstützen?
Krause: Italien und Griechenland haben sich nie an ihre Verpflichtungen gehalten. Italien lässt seit Jahren unregistriert Flüchtlinge gen Norden reisen. Griechenland war stets überfordert. Das System funktionierte noch nie, was aber jetzt erst auffällt, weil die Zahl der Flüchtlinge so stark gestiegen ist.
Wie unüberlegt die Bundesregierung auf den wachsenden Druck reagiert hat, erschreckt mich schon – ohne Absprache, ohne Organisation, ohne faktische Vorbereitung einfach die Grenze zu öffnen. Einfach zu sagen, wir schaffen das, reicht nicht. Die Hilfsbereitschaft der Menschen in Deutschland, die finde ich dagegen klasse!
Auch Juncker wird nicht gehört
tagesschau.de: Führende Köpfe wie EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sparen nicht mit eindringlichen Worten, die aber ungehört zu verhallen scheinen. Warum?
Krause: Mein Verdacht ist, dass Juncker daran nicht ganz unschuldig ist. Er hatte sich zum Ziel gesetzt, eine politische Kommission im Sinne einer europäischen Regierung zu führen. Darüber vernachlässigt die Kommission aber ihre Aufgabe, als „Hüterin der Verträge“ über die Einhaltung der europäischen Regeln zu wachen. Das schmälert meiner Ansicht nach die Wirkung der Kommission und auch die des Kommissionspräsidenten.
Regeln werden inzwischen nur noch eingehalten, wenn es passt. Italien und Griechenland verstoßen, wie gesagt, seit Jahren gegen das Dublin-Abkommen. Danach müssen Flüchtlinge in dem europäischen Land registriert werden, wo sie europäischen Boden betreten. Frankreich bringt seit Jahren seinen Haushalt nicht in Ordnung. Ich sehe darin die ganz große Gefahr: Europa weist nicht die notwendige innere Stabilität und Verlässlichkeit auf.
tagesschau.de: Scheitert Europa?
Krause: Wenn Europa scheitert, dann genau daran: Dass wir uns an bestehende Regeln nur noch nach Belieben halten und diese unter- und aushöhlen. Wir merken auch, dass die Gedanken übereinander nicht mehr so freundlich sind wie früher. Ich erinnere mich noch an die Zeiten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Da war klar: Diese sechs gehören zusammen. Und dieses Gefühl überwog auch später mit zehn oder zwölf Staaten. Aber inzwischen fehlt diese Gemeinsamkeit.
Das Interview führte Ute Welty, tagesschau.de