Interview

Anschlag auf Franz Ferdinand im historischen Kontext "Der berühmte letzte Tropfen"

Stand: 26.06.2014 10:54 Uhr

Das Attentat vom 28. Juni 1914 wird gemeinhin als der Beginn des Ersten Weltkriegs gesehen. Ohne die gesamte weltpolitische Lage hätte der Anschlag aber kaum zum Kriegsausbruch geführt, meint der Historiker Gerd Krumeich. "Es war nur der berühmte letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat", sagt er im Gespräch mit tagesschau.de.

tagesschau.de: Das Attentat von Sarajevo wird im Allgemeinen als Auslöser des Ersten Weltkriegs gesehen. Ist das so?

Gerd Krumeich: Das war sicherlich der Auslöser für das, was später der Erste Weltkrieg geworden ist. Aber die Herleitung "Da war das Attentat - und dann war Weltkrieg" wäre zu einfach. Das Attentat kam zu einem Zeitpunkt, wo die Regierungen und Militärs der europäischen Länder ohnehin für einen Krieg bereit waren und eine Gelegenheit suchten, diesen zu beginnen. Die internationale Situation war schon durch die Jahre zuvor angespannt: Imperialismus, Militarisierung - das haben alle Länder betrieben.

Zur Person
Prof. Dr. Gerd Krumeich zählt zu den führenden deutschen Historikern. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen unter anderem die Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkriegs, sowie die Militärgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Bis zum Jahr 2010 lehrte Krumeich an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf.

tagesschau.de: Also hätte das Attentat ohne die weltpolitische Lage nicht zum Ersten Weltkrieg geführt?

Krumeich: Das Attentat war der berühmte letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Dass alle Augen auf Krieg gerichtet waren - die Situation gab es schon vorher. Da haben alle Länder, auch die Deutschen, zu beigetragen: Die Franzosen genauso wie die Engländer, die Österreicher und die Russen. Da hat keiner eine besondere Rolle gespielt. Somit tragen alle eine Schuld.
Das einzige was man zur Entlastung sagen könnte wäre, dass keiner von ihnen geglaubt hätte, dass der Krieg so lange gehen würde und so viele Tote zur Folge haben würde.

Eskalation der Lage

tagesschau.de: Was genau passierte nach dem Attentat?

Krumeich: Serbien wurde international für das Attentat an dem Thronfolger-Ehepaar verantwortlich gemacht. Unter anderem auch deswegen, weil die Attentäter nach ihrer Verhaftung unglaublich viel erzählten: Sie wollten ihre Ideen verbreiten und den Menschen zeigen wie weit sie dafür zu gehen bereit sind. Das half den Österreichern ungemein, Material gegen Serbien zu sammeln. Und selbst Russland, der eigentliche Beschützer des serbieschen "Brudervolkes", sprach sich für eine Bestrafung Serbiens aus.
Unter diesen Aspekten wären alle anderen Länder, auch Deutschland, damit einverstanden gewesen, dass Österreich-Ungarn einen Militärschlag gegen Belgrad durchführt.

tagesschau.de: Warum reagierte Österreich-Ungarn so hart?

Krumeich: Niemand rechnete damit, dass ein Attentat direkt zu einem Krieg führen könnte. Die Welt war entsetzt über den Mord, aber weder Frankreich noch England dachten an einen Krieg. Nur in Wien nahm man das Attentat als Anlass dafür, endlich mit den Serben abzurechnen.

In Serbien gab es viele Unternehmungen, die darauf abzielten, das instabile multinationale Großreich Österreich-Ungarn zu unterminieren. Bereits einen Monat vor dem Attentat ist in der österreichisch-ungarischen Regierung ein Memorandum vorgestellt worden, in welchem sie begründen, endlich gegen Serbien vorgehen zu können. Aber die deutsche Regierung hielt bis zum Attentat die Österreicher vor Aktionen gegen Serbien zurück. Nach dem Attentat allerdings ist die deutsche Regierung dazu bereit, die Nachbarn militärisch zu unterstützen.

tagesschau.de: Welche weiteren Umstände haben zu einer Eskalation der damaligen Situation geführt?

Krumeich: Österreich-Ungarn suchte schon lange nach einem Grund, um die Serben militärisch anzugreifen. Auch Deutschland war einem baldigen Kriegsbeginn nicht abgeneigt, da die Militärs befürchteten, Russland könne in den kommenden Jahren an Macht und Stärke gewinnen. Dann wäre ein Sieg nicht mehr so leicht zu erzielen. Eine allgemeine Kriegsbereitschaft war bei allen Ländern vorhanden.

Ein zu moderner Thronfolger

tagesschau.de: Das Ziel des Attentats war Erzherzog Franz Ferdinand. Warum traf das Attentat genau ihn? Oder war er vielleicht nur am falschen Tag am falschen Ort?

Krumeich: Der Plan des Herzogs, Sarajevo zu besuchen, war seit März bekannt, es konnte also in Ruhe ein Attentat auf ihn geplant werden. Außerdem war Franz Ferdinand den Menschen zu modern, auch vielen Österreichern. Zum Beispiel trat er vielen zu autoritär auf. Viele serbische Nationalisten hatten die Befürchtung, dass er der serbischen Minderheit gegenüber einen versöhnlichen Kurs einschlagen würde, wenn er an der Macht ist. Damit würde er ihnen natürlich den Zunder für ihre Politik nehmen.

tagesschau.de: Warum reiste der Erzherzog nach Sarajevo?

Krumeich: Es ist kein Zufall, dass der Erzherzog genau an diesem Tag nach Sarajevo fuhr. Der 28. Juni 1914 war der 525. Jahrestag der Niederlage der Serben gegen die Türken. Der Auftritt des Erzherzogs sollte eine Demonstration seiner Stärke und Macht werden. Aber die Stimmung der Bevölkerung war aufgeladen und der Erzherzog gewarnt zu diesem Zeitpunkt in die Stadt zu reisen. Pläne zu einem Attentat waren schon lange bekannt, denn die Gegner lassen sich eine solche Gelegenheit natürlich nicht entgehen.

Revolutionäre Jugendliche

tagesschau.de: Der Schütze wird einer revolutionären, nationalistischen Gruppe zugeordnet: War diese repräsentativ für die Stimmung der Bevölkerung in Bosnien-Herzegowina zu der Zeit?

Krumeich: Nein, die Einstellung der Attentäter entsprach nicht der Haltung, die die Mehrheit der Bevölkerung hatte. Natürlich hatten sie ein gewisses Maß an Unterstützung, aber im Großen und Ganzen gehörten die Männer zu einem elitären Zirkel, in welchem sie ihre Politik betrieben und bereit waren Grenzen zu überschreiten.

tagesschau.de: Die Attentäter waren noch sehr jung, teilweise noch Schüler. Welche persönlichen Gründe veranlasste sie zu dieser Tat?

Krumeich: Die Männer handelten aus den verschiedensten Gründen heraus: Sie wurden unterdrückt, sie waren unzufrieden mit der Regierung und sie waren überzeugt von ihrer nationalistischen Einstellung.

Das Gespräch führte Judith Rönnau für tagesschau.de.

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