Thailand-Berichterstattung "Sie haben Gesichter und Geschichten"
Das Schicksal der thailändischen Jungen bewegt weltweit die Menschen. Objektiv größere Dramen spielen eine viel kleinere Rolle. Der Medienwissenschaftler Pörksen erklärt im Interview die Gründe dafür.
NDR Info: Warum fiebern wir bei den Jungen mit - aber weniger, wenn es um ein nach Zahlen viel größeres Drama wie die Flucht über das Mittelmeer oder die Unwetter in Japan geht?
Bernhard Pörksen: Wir sehen daran, dass sich die menschliche Aufmerksamkeit insgesamt ungleich verteilt. Diese Geschichte ist ja aufgebaut worden: Es gibt eine Vorgeschichte, es gibt die vielen Berichte über die Eingeschlossenen. Es gibt das Drama des Wetterumschwungs, der neue Regen, die Möglichkeiten und die Unmöglichkeiten, sie zu retten.
Diejenigen, die da leiden, haben ein Gesicht und eine Geschichte, die wir längst kennen, und die auf einer globalen Bühne bekannt geworden ist. Diejenigen, die im Mittelmeer ertrinken, sind ohne Gesicht - zumindest für uns ist ihr Schicksal nicht in dieser Weise anschaulich geworden.
Man kann daran sehen - ohne, dass es in irgendeiner Weise zynisch klingen soll: Die Emotion erschlägt die Information.
"Der Mensch ist das Geschichten erzählende Wesen"
NDR Info: Das heißt, wenn Medien beispielsweise über das Schicksal von Opfern von Naturkatastrophen oder eben auch den Flüchtlingen emotionaler berichteten - wären wir mehr berührt?
Pörksen: Ich glaube ja, in jedem Fall. So bleibt das Leid zunächst abstrakt und in gewissem Sinne für uns unsichtbar: reduziert auf die nackte Zahl; auf die Zahl derjenigen, die da umgekommen sind.
Wir wissen und können es an ganz vielen Beispielen zeigen: Der Mensch ist das Geschichten erzählende Wesen - das "storytelling animal", hat es mal ein Literaturwissenschaftler in einem aktuellen Buch genannt. Wir leben in Geschichten, wir denken in Geschichten, wir träumen Geschichten. In gewissem Sinne gilt: Unsere Umwelt - unsere Welt - besteht nicht aus Atom, sondern aus Geschichten. Und genau das lässt sich an diesem Beispiel zeigen.
Aus dem Mittelmeer gerettete Flüchtlinge: Warum bewegt ihr Schicksal viele Medien und Menschen weniger als das der thailändischen Jungen?
NDR Info: Und die Identifikationsmöglichkeiten mit einer Gruppe junger Fußballer ist wahrscheinlich auch größer als die mit Flüchtlingen aus einem fremden Land, aus einer fremden Kultur, wo wir gar nichts wissen.
Pörksen: Das kann man so sehen. Und es gibt noch eine weitere Dimension: Natürlich ist diese Geschichte eine potenziell - man kann ja nur hoffen, dass es gut ausgeht - sehr positive Geschichte. Eine Geschichte, die uns - die "Bild"-Zeitung hat getitelt: Wir alle helfen mit, die Welt hilft diesen Kindern - potenziell in Helden und Helfer verwandelt.
Wenn wir die Geschichten aus dem Mittelmeer hören, dann sind es Geschichten, die auf indirekte Weise auch von uns handeln - nämlich von unserer Ignoranz, von unserer Weigerung, Hilfe zu leisten.
Die Geschichte in Thailand strahlt, wenn man so will, positiv auf uns ab. Die Geschichte im Mittelmeer, die muss uns zu tief gehenden Fragen veranlassen über unsere eigene Bereitschaft, anderen Menschen zu helfen, die in Not sind.
NDR Info: Und es ist eine Geschichte, die noch gut ausgehen kann. Richtig, hat das auch damit zu tun?
Pörksen: Absolut. Die dramatische Wendung, die Möglichkeit zu scheitern und die Möglichkeit, dass alles ein sehr positives Ende nimmt - all dies spielt natürlich mit in dem Bann der Aufmerksamkeit, den wir jetzt erleben. Und wir haben ja in allen Redaktionen der Welt heute sehr genaue Messgeräte: Man kann sehr genau sehen und zeigen, was funktioniert, was interessiert, was fasziniert? Und das sind eben nicht abstrakte Probleme, sondern konkrete Geschichten.
Und so entsteht dann gewissermaßen ein jetzt zu beobachtender Hype. Die ganze Welt beschäftigt sich mit dem dramatischen Schicksal dieser jungen Menschen, die da eingeschlossen sind in der Höhle - oder zum Teil schon gerettet.
"Das abstrakte Geschehen ist unanschaulich"
NDR Info: Viele Medien neigen dazu das weiter zu erzählen, was man sich auch im Privaten erzählen kann. Ist das der große Fehler?
Pörksen: Ich weiß nicht, ob es unbedingt ein Fehler ist. Man muss einfach konstatieren, dass wir Menschen Geschichten erzählende Wesen sind, und dass Geschichten in besonderer Weise gut funktionieren. Das abstrakte Geschehen ist unanschaulich, nicht anpassbar, nicht sofort verständlich. Aber man kann sehr wohl fragen, ob wir nicht als Gesellschaft die Form des Geschichtenerzählens für massive Gewalt, für gewaltige und für sehr abstrakte Problemlagen wieder neu lernen müssen.
Sehen Sie, das Problem des Überwachungsskandals lässt sich schwer in eine Geschichte fassen. Sehen Sie das Problem des Klimawandels: Das lässt sich sehr schwer erzählen, dieses allmähliche schleichende sich verschlechternde Klima auf der Welt - und darüber müssen wir nachdenken, müssen auch Journalisten nachdenken: Wie können sie seriöses Storytelling mit guten Absichten betreiben.
NDR Info: Medien neigen dazu, das auf die Titelseite zu nehmen, was läuft, wonach die Menschen sofort greifen. Haben sie nicht auch noch andere Aufgaben?
Pörksen: Ja unbedingt. Ich denke ein Journalismus, der nur Publikumsinteresse bedient, ist schlechter Journalismus. Es geht um die richtige Mischung aus Popularität: Man bedient sich bei dem, was viele Menschen fasziniert. Und man orientiert sich an dem, was man selbst für gesellschaftlich bedeutsam hält.
Dieses Abwägen von Popularität auf der einen Seite und gesellschaftlicher Relevanz auf der anderen Seite - darum geht es beim guten Journalismus. Nur das Ignorieren dessen, was Menschen interessiert und fasziniert - es wäre absurd, das nun vorzuschlagen. Aber die reine Orientierung am Populären, das wäre ein ähnlich absurder, ein ähnlich unmöglicher Weg.
Das Interview führte Sabine Rein, NDR Info