Gespaltene Gesellschaft "Es gibt eigentlich zwei Polen"
Die EU-Kommission hat schwere Bedenken gegen eine Justizreform in Polen angemeldet, der national-konservativen Regierung nun aber mehr Zeit eingeräumt, darauf zu reagieren. tagesschau.de sprach mit der Osteuropa-Expertin Anna Quirin über die "zwei Polen".
tagesschau.de: Die polnische Gesellschaft ist gespalten. Wo verläuft dieser Riss, was macht ihn aus?
Quirin: Der Riss verläuft sehr tief in der Gesellschaft. Es gibt eigentlich zwei Polen und jedes Polen schämt sich für das andere Polen. Ein Teil der Gesellschaft will ein nationales Polen haben, wo Werte - auch die christlichen - eine große Rolle spielen. Daneben haben wir einen anderen Teil der Bevölkerung, der mehr auf die gesellschaftliche Entwicklung als auf Nation setzt und ein offenes und europäisches Land will.
Anna Quirin arbeitet für die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik, einem Think Tank, der sich mit der außenpolitischen Meinungsbildung in Deutschland befasst. Polen und die deutsch-polnischen Beziehungen sind das Fachgebiet der Wirtschaftswissenschaftlerin.
tagesschau.de: Woran merkt man das im Alltag, wie ist die Stimmung im Land?
Quirin: Die Politik ist allgegenwärtig - ob sie zum Arzt gehen oder in der Familie sprechen, überall kommt die Politik auf den Tisch. Die Spaltung geht durch die Familien. Die Diskussionen sind sehr emotional und oft auch aggressiv.
Gegen die Arroganz der alten Regierung
tagesschau.de: Heißt das, es ist ein Generationenkonflikt?
Quirin: Viele junge Menschen haben die neue Regierung gewählt. Themen, mit denen die Regierung die jungen Menschen erreicht hat, waren die Anti-Establishment-Einstellung, die Nähe zu den Bürgern, die die vorherige, liberale Regierung nicht mehr gepflegt hat, die Arroganz der alten Regierung, und die starken nationalen Werte. Die polnische Gesellschaft ist an sich eine konservative Gesellschaft. Das hat die PiS-Partei erkannt und aufgegriffen: Liebe zur Heimat, katholische Erziehung und Werte.
tagesschau.de: Die Protestkundgebungen finden in den großen Städten statt. Ist die städtische Bevölkerung kritischer gegenüber der aktuellen Regierung - wenn ja, warum?
Quirin: Definitiv ist es kein Zufall, dass die Protestbewegungen in den großen Städten stattfinden. Die Umfragen sagen, dass Menschen aus großen Städten und besser Ausgebildete zu den Gegnern der jetzigen Regierung gehören. Die ländliche Bevölkerung und Menschen mit schlechterer Ausbildung unterstützen dagegen eher die populistische, konservative Regierung. Der Grund könnte sein, dass Menschen aus großen Städten mehr Kontakte mit dem Ausland, deshalb weniger Berührungsängste haben und offener sind.
tagesschau.de: Die Proteste gegen die Politik der Regierung sind massiv. Hunderttausende gehen auf die Straße. Können die Demonstrationen etwas ändern?
Quirin: Man hat in Polen seit 1989 nach der Wende gejammert und gemeckert, dass in 25 Jahren keine Zivilgesellschaft entstanden ist, dass sehr viel in die wirtschaftliche Entwicklung des Landes investiert, aber die Zivilgesellschaft nicht ausreichend unterstützt worden ist. Momentan haben wir eine Situation, in der die Zivilgesellschaft sehr stark zu Wort kommt - die Protestbewegung baut sie auf. Ob das politisch etwas ändert, ist die entscheidende Frage: Die Regierung wurde demokratisch gewählt, sie hat ein Mandat für vier Jahre, aber die Massen, die auf die Straße gehen, kann man nicht überhören und die Regierung wird darauf reagieren müssen.
Die Stimmung wandelt sich
tagesschau.de: Sie sagten es gerade: Die polnische Regierung ist demokratisch gewählt, hat sie denn nach wie vor eine Mehrheit im Land hinter sich?
Quirin: Es gibt eine Tendenz, dass die Regierung an Zustimmung verliert und die Gegner der Regierung überwiegen. Aber das ist ein sehr langsamer Prozess. De facto ist es so, dass die Unterstützung sinkt, je länger die Verfassungskrise andauert.
tagesschau.de: Trifft das auf die gesamte Bevölkerung zu, auch auf die jungen Wähler?
Quirin: Ja. Viele junge Menschen sind zwar konservativ und in Traditionen verwurzelt, aber viele waren und sind noch immer gleichzeitig sehr EU-euphorisch. Auch die Jungen realisieren natürlich, dass die Regierung gegen die Annäherung an die EU agiert. Und da viele von ihnen mobil sind, im Ausland studieren oder arbeiten, kommen anti-europäische Töne nicht gut an.
"Nur zusammen kann man etwas bewegen"
tagesschau.de: Sie sagten, es sei ein langsamer Prozess, die Protestbewegung braucht also einen langen Atem. Wie nachhaltig ist die Bündelung der oppositionellen Kräfte, die untereinander ja durchaus zerstritten sind?
Quirin: Ich habe den Eindruck, dass sie sich immer mehr bündeln. Jeder, der gegen die Regierung ist, weiß, dass man nur zusammen etwas bewegen kann. Die Proteste kommen aus der Bevölkerung, aber die Oppositionsparteien unterstützen sie sehr stark. Auch die linken Parteien, die zurzeit nicht im Parlament vertreten sind, schließen sich der Bewegung an.
tagesschau.de: Gibt es Erwartungen in der parlamentarischen und außerparlamentarischen Opposition an die EU, an Deutschland?
Quirin: Es ist ein Dilemma: Die Regierung fährt einen anti-europäischen, anti-deutschen Kurs. Das heißt, Stimmen aus dem Ausland - wie wir sie jetzt auch in Bezug auf die Entscheidung der Kommission hören - werden von der populistischen Regierung als Futter verwendet. Sie dienen damit der Rhetorik der Regierung. Gleichzeitig hofft die Protestbewegung natürlich, dass sie Unterstützung vom Ausland bekommt. Es ist eine schwierige Lage, aber ich denke, dass vor allem die deutschen Politiker gut beraten sind, sich - wenn überhaupt - sehr milde zu äußern.
Vergleich mit dem kommunistischen Regime vor 1989
tagesschau.de: Der Regisseur Andrzej Wajda vergleicht die heutige Politik der nationalkonservativen PiS mit dem Einparteiensystem vor 1989. Geht er damit zu weit?
Quirin: Er ist nicht allein mit diesem Vergleich. Den ziehen immer mehr Menschen in Polen, die sich an diese Zeit erinnern können. Das ist auch der Unterschied zwischen der Jugend und der älteren Generation, die gegen die kommunistische Regierung gekämpft und den Vergleich hat. Die junge Generation, die in starkem Maße die national-konservative Regierung gewählt hat, hat diesen Vergleich nicht.
Ob der Vergleich zulässig ist? In der Rhetorik, in der Art, wie die Regierung kommuniziert und wie sie die Medien und die behördlichen Institutionen verändert – da gibt es sehr viele Parallelen, die daran erinnern. Die öffentlich-rechtlichen Medien sollen zu "nationalen Medien" umstrukturiert werden. Man überlegt momentan zum Beispiel, ob alle Journalisten entlassen werden, um sie dann erst nach einer Überprüfung wieder einzustellen.
tagesschau.de: Gehört zu diesen Maßnahmen der Regierung auch die Einschränkung der Rechte des Verfassungsgerichts?
Quirin: Ich denke, das ist zurückzuführen auf eine Lektion, die die PiS in ihrer Regierungszeit 2005-2007 gemacht hat. In der Zeit haben sie die meisten Schwierigkeiten mit dem Verfassungsgericht und den Medien gehabt - das, was damals als Störfaktor empfunden wurde, wurde jetzt als erstes in Visier genommen. Die Umstrukturierung dieser Institutionen hat ja zu der Verfassungskrise geführt. Es ist auf jeden Fall ein Angriff auf die Gewaltenteilung. De facto ist die Judikative im Land momentan gelähmt.
tagesschau.de: Da dies - wie Sie es schildern - ein Kern der Regierungspolitik ist: Wie weit würde die polnische Regierung im Konflikt mit der EU gehen. Riskiert sie eine Eskalation im Rechtsstaatlichkeitsverfahren?
Quirin: Da kann man nur spekulieren: Aber die Rhetorik der Regierung - das Recht auf Selbstbestimmung des Landes, auf Nicht-Einmischung - macht es für sie schwierig, Kompromisse zu schließen. Die Regierung schließt die Tür für eine friedliche Lösungsfindung. Das führt momentan zur Konfrontation.
Das Interview führte Nea Matzen, tagesschau.de.