Polizeigewalt in den USA "Deeskalation spielt kaum eine Rolle"
Immer wieder werden Schwarze in den USA Opfer unverhältnismäßiger Polizeieinsätze. Warum es so schwer ist, daraus die nötigen Konsequenzen zu ziehen, erklärt Soziologe Kienscherf im Interview.
tagesschau.de: Dem gewaltsamen Tod von George Floyd als Folge eines exzessiven Polizeieinsatzes sind schon andere Vorfälle in den vergangenen Jahren vorausgegangen. Warum ist der Protest jetzt so massiv?
Markus Kienscherf: Das liegt einfach daran, dass die rassistische Polizeigewalt nur die Spitze des Eisbergs ist bzw. nur der Funke war, der das Pulverfass zum explodieren gebracht hat.
Und das eigentliche Pulverfass ist die Geschichte der Unterdrückung und Ausbeutung der Schwarzen durch die Sklaverei, die Rassentrennung in der Vergangenheit und auch die immer noch bestehenden sozio-ökonomischen Ungleichheiten.
Markus Kienscherf ist Juniorprofessor für Soziologie am John-F. Kennedy Institut für Nordamerikastudien der Freien Universität Berlin. Kienscherf forscht zu innerer Sicherheit, sozialer Ungleichheit und Rassismus in den USA.
tagesschau.de: Ist es tatsächlich so, dass Schwarze häufiger Opfer polizeilicher Gewalt werden?
Kienscherf: Ja, das ist eindeutig so und in den letzten zehn Jahren stark erforscht worden. Die Datenbank "Fatal Encounters" ergab etwa, dass im laufenden Jahr bereits fast jeden Tag ein Polizist einen Menschen getötet hat. 26 Prozent der Opfer sind Schwarze, ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung liegt aber nur bei 13 Prozent. Sie sind also deutlich überrepräsentiert.
Aber das Phänomen lässt sich weit zurückverfolgen in die Geschichte der USA.
tagesschau.de: Wie hoch ist denn der Anteil der Schwarzen an der Kriminalität? Relativiert sich da nicht die zahlenmäßig höhere Betroffenheit?
Kienscherf: Das spielt mit Sicherheit eine Rolle. Schwarze sind gerade bei bestimmten Delikten überrepräsentiert, u.a. bei Gewalt- und Eigentumsdelikten. Nichtsdestotrotz relativiert diese Zahl aber nicht die Polizeigewalt gegen sie.
tagesschau.de: 2016 wurde Philando Castile bei einer Polizeikontrolle wegen eines defekten Rücklichts erschossen. Bei einem ähnlichen Vorfall starb 2015 Samuel DuBose. 2014 starb der zwölfjährige Tamir Rice durch eine Polizeikugel, weil er mit einer Spielzeugwaffe hantiert hat und vor allem der Fall Michael Brown in Ferguson 2014 führte zu landesweiten Protestesten. Warum folgen auf solche Fälle keine richtigen Reformen?
Kienscherf: Das liegt unter anderem an der Organisationsstruktur der Polizei. Es ist nicht möglich, das bundeseinheitlich zu regeln. Das polizeiliche Vollstreckungsrecht ist nicht einmal Sache der einzelnen Bundesstaaten. Vielmehr kann jedes "County" das selbst regeln, also ähnlich einem Bezirk oder Landkreis. Es gibt sehr große Unterschiede, wie die Ausübung von Zwangsmitteln geregelt ist. Das zu vereinheitlichen ist so gut wie unmöglich.
Polizeirecht in den USA nur schwer reformierbar
tagesschau.de: Welche Zwangsmittel sind das zum Beispiel und wo liegen die größten Unterschiede?
Kienscherf: Zum Beispiel "chokeholds" und "strangleholds", also eine Art Würgegriffe bei Festnahmen. Eine Umfrage unter 91 unterschiedlichen Polizeibehörden hat ergeben, dass gerade einmal 21 diese Praxis verboten haben. Das Atlanta Police Department hat es etwa verboten, in Chicago sind sie noch erlaubt, auch in Baltimore. Das kann im Einzelnen schon einen Unterschied machen.
tagesschau.de: Das heißt, selbst ein schwarzer Präsident konnte offenbar gegen das Problem rassistischer Polizeigewalt nicht viel ausrichten?
Kienscherf: Nein. Die Bundesstaaten und eben die einzelnen Polizeibehörden haben einen großen Spielraum, ihre eigenen Leitlinien zu erlassen.
Ohne große juristische Konsequenzen
tagesschau.de: Aber solche Richtlinien können es doch schwer erlauben, im Einsatz unverhältnismäßige Gewalt bis hin zur Tötung offensichtlich unbewaffneter Menschen zu ermöglichen? Wie sieht die gerichtliche Aufarbeitung nach solchen Vorfällen aus?
Kienscherf: Wenn es um den alltäglichen Rassismus geht, gibt es zwar Anti-Diskriminierungsgesetze, aber die greifen nicht. Wenn man etwa einem Polizisten Rassismus vorwirft, dann muss man als Betroffener einen klaren Vorsatz nachweisen können.
Das ist in der Praxis extrem schwer. Daher gibt es da auch eine hohe Dunkelziffer. Und selbst nach den bekanntgewordenen exzessiven Fällen wurden viele Polizisten freigesprochen oder die Urteile waren ziemlich harmlos. Als Rechtfertigung reicht oft aus, wenn sich der Polizist in der konkreten Situation bedroht gefühlt hat.
tagesschau.de: Werden Polizisten auf solche Situationen nicht auch geschult?
Kienscherf: Bei der Ausbildung liegt der Fokus immer sehr stark auf der Ausbildung an der Waffe. Deeskalation- und Konfliktlösungsstrategien spielen nur eine untergeordnete Rolle.
Ein Kernproblem: Das Bild vom jungen schwarzen Kriminellen
tagesschau.de: Was muss denn Ihrer Meinung nach geschehen?
Kienscherf: Das Problem lässt sich nur lösen, wenn man das Kernproblem Rassismus löst. Und das ist einfach das Problem der sozio-ökonomischen Ungleichheit. Auch hat sich seit den 60er-Jahren das Bild des kriminellen jungen Schwarzen verfestigt. Es gab kurz vor dem Tod von George Floyd einen Vorfall im New Yorker Central Park. Ein Schwarzer wies eine Hundebesitzerin auf den geltenden Leinenzwang hin. Diese rief daraufhin die Polizei. Sie sei von einem Schwarzen bedroht worden. Da spielt dann ein ganzer Rattenschwanz an Assoziationen rein.
tagesschau.de: Bei allem Verständnis, warum sind die Proteste in diesen Tagen nicht friedlicher?
Kienscherf: Wir sollten bei allem nicht vergessen, dass der Auslöser für die Proteste immer noch die Tötung von Menschen ist und das schließt auch strukturelle Gewalt durch Armut und mangelhafte Gesundheitsversorgung mit ein. Ich denke, zum großen Teil sind die Proteste durchaus friedlich, aber die Aufmerksamkeit wird stark auf die andere Seite gerichtet wie zum Beispiel Plünderungen.
Das Interview führte Iris Marx, tagesschau.de.