Interview mit Rebecca Harms "Wir können uns nicht zweiteilen"
Dass die meisten Wähler die Arbeit des Europaparlaments kaum registrieren, begründet die Grünen-Spitzenkandidatin Harms mit der Arbeitsweise des Parlaments. Die Abgeordneten seien nur wenige Tage im Monat in Deutschland, sagt sie im Interview mit tagesschau.de.
tagesschau.de: Die Bundesbürger haben eine bestimmte Vorstellung von der Arbeit einer Parlamentsfraktion, und die ist vom Bundestag geprägt. Lässt sich das so auf die Arbeit der Fraktion in Brüssel übertragen?
Rebecca Harms: Das lässt sich nicht übertragen, weil die Rolle der Abgeordneten und damit der Fraktionen sich wesentlich von der Rolle nationaler Parlamente unterscheiden. Im Europaparlament gibt es keine Mehrheitsfraktion, die eine Regierung stützen muss. Das Parlament hat die Aufgabe, die Kommission zu kontrollieren und Entscheidungen zu korrigieren. Es ist Mit-Gesetzgeber. Diese Rolle als Kontrolleur, Korrektiv und Antreiber erfordert es, dass oft über Fraktionsgrenzen hinweg immer neue Koalitionen geschmiedet werden. Das kommt so in nationalen Parlamenten nicht vor.
tagesschau.de: Ein Fraktionszwang kann also nicht funktionieren?
Harms: Nur sehr schwer. Jede Fraktion setzt sich aus etlichen nationalen Delegationen zusammen. Auch wenn sich nationale Parteien in europäischen Parteifamilien zusammengeschlossen haben, bedeutet das nicht, dass nationale Priorioritäten an der Tür des Europaparlaments abgegeben werden - einen solchen Beschluss gibt es in keiner Partei. Das wirkt sich unterschiedlich aus. Ich freue mich, wenn ich in Debatten über den Atomausstieg treue Verbündete bei den österreichischen, griechischen oder irischen Konservativen finde. Andererseits könnte man mit Kritik am Lissabon-Vertrag auch schwedische Grüne "abwerben".
"Kein Mangel an Disziplin"
tagesschau.de: Das macht die Arbeit in einer Fraktion schwierig. Wie schwer wiegen am Ende des Tages die nationalen Unterschiede?
Harms: Wir Grüne sind da noch ganz gut dran. Wir sind nicht die größte Fraktion und haben in der letzten Legislaturperiode einheitlicher und konsistenter als alle anderen abgestimmt. Das ist ein sehr gutes Ergebnis und stärkt unseren Einfluss. Die grüne Disziplin lohnt sich. Es ist aber schwieriger, wenn die Fraktion größer ist. Die Heterogenität wächst mit der Anzahl der Länder, die in einer Fraktion vertreten sind.
tagesschau.de: Wie würden Sie denn die Linien in der Fraktion beschreiben?
Harms: Innerhalb der Europäischen Grünen wurden der Verfassungsvertrag und auch die Lissabonvertrag lange diskutiert. Aber die große Mehrheit der Fraktion hat sich für den Verfassungsentwurf ausgesprochen und ist überzeugt von den Reformen, die der Lissabon-Vertrag bringt. Daneben gibt es immer wieder Auseinandersetzungen über die Außen- und Sicherheitspolitik. Einige europäische grüne Parteien plädieren strikt für Pazifismus, andere würden militärischen Interventionen zustimmen, wenn die Situation es erfordert und das Völkerrecht respektiert wird. In Hauptgesetzgebungsbereichen wie Umwelt, Verbraucherschutz und Landwirtschaft haben wir eine sehr einheitliche Auffassung und nehmen deshalb viel Einfluss, zum Beispiel in der Klimapolitik.
Wenig Zeit für Wahlkreis
tagesschau.de: Wie erklären Sie sich, dass die Erfolge der europäischen Parteien den wenigsten Wählern bewusst sind?
Harms: Wir haben einen anderen Sitzungsrhythmus als die Bundestagsabgeordneten. Der deutsche Bundestagsabgeordnete ist in der Regel zwei Wochen pro Monat in seinem Wahlkreis. Wir dagegen haben nur vier Wahlkreiswochen pro Jahr. Wer in den gesetzgebenden Aussschüssen arbeitet, der ist fast den ganzen Monat in Brüssel oder Straßburg und nur wenige Tage in Deutschland. Das muss man berücksichtigen wenn man danach fragt, warum Europaabgeordnete in den nationalen Debatten nicht präsenter sind. Wir können uns nicht zweiteilen.
tagesschau.de: Wie kann man unter diesen Umständen europäische Politik gegenwärtiger machen?
Harms: Ich bin davon überzeugt, dass die nationalen Parlamente auf Landes- und Bundesebene enger mit dem Europaparlament zusammenarbeiten müssten. Es sollte nicht nur als Infoquelle für nationale Debatten gesehen werden. Man muss sich tatsächlich mit den europäischen Linien auseinandersetzen. Und dann muss auf der nationalen Bühne mehr Raum für europäische Akteure geschaffen werden. Politik ohne Personen - das funktioniert nicht.
tagesschau.de: Wünschen Sie sich hier manchmal mehr Verständnis und Interesse?
Harms: Ich lese jedenfalls mit Verwunderung, dass zum Beispiel die Brandenburger SPD den Einstieg in den Europawahlkampf inszeniert und den örtlichen Spitzenkandidat dabei erst vergisst und ihn dann um ein Grußwort bittet. Da zeigt sich oft, dass europäische Politik für die nationalen Parteien, aber auch bei Nicht-Regierungsorganisationen und in den Medien eine exterritoriale Politik ist. Da gibt es einige Mängel zu beheben.
Das Gespräch führte Eckart Aretz, tageschau.de