Flüchtlingspolitik "Europa fehlt eine realistische Vision"
Nach Ansicht von Migrationsforscher Knaus hat Deutschland Historisches in der Flüchtlingskrise geleistet. Eine gemeinsame EU-Asylpolitik hält er im Interview mit tagesschau.de aber für unrealistisch.
tagesschau.de: Was ist ihre persönliche Bilanz nach der Flüchtlingskrise?
Gerald Knaus: Deutschland war im März 2016 in der EU isoliert - als ein Land, das weiterhin an der UN-Flüchtlingskonvention festhalten wollte. Die meisten anderen setzten bereits damals auf eine Politik der Abschreckung auf Kosten Griechenlands. Wäre es der deutschen Kanzlerin nicht gelungen, mit den Niederländern im März 2016 eine Einigung mit der Türkei zu erzielen, hätte sich die Politik, Grenzübertritte durch nackte Gewalt zu stoppen, schon im Frühjahr 2016 durchgesetzt.
Was in Deutschland im Herbst 2015 gelang, war historisch und ist eine der Sternstunden in der 70-jährigen Geschichte der UN-Flüchtlingskonvention. Wer kam, wurde menschenwürdig behandelt. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) wuchs an der Aufgabe und wurde zur größten Asylbehörde der Welt.
Gerald Knaus leitet die gemeinnützige Denkfabrik "Europäische Stabilitätsinitiative" (ESI) und gilt als einer der Architekten des EU-Türkei-Abkommens. Der Österreicher ist in der Flüchtlingspolitik und im Umgang mit der Türkei ein gefragter Experte. Er studierte in Oxford, Brüssel und Bologna und war unter anderem als Analyst für die UN im Kosovo aktiv.
"Das macht ein Staat nur, dem das Asylrecht wichtig ist"
tagesschau.de: Dabei war das BAMF doch anfangs völlig überfordert mit der Situation...
Knaus: Im Jahr 2013 wurde in Deutschland vom BAMF 20.000 Mal Schutz gewährt, 2016 mehr als 440.000 Mal. Dass so etwas gelang und das Recht auf Asyl nicht nur auf dem Papier bestand, war eine große Leistung dieser Behörde. Und ist ein historisches Vorbild für andere Länder. Deutschland hat stark in das BAMF investiert. Das macht man als Staat nur, wenn einem das Asylrecht wichtig ist.
Leider gelang in der EU an der Außengrenze nichts Vergleichbares. In Griechenland kamen 2017 und 2018 weniger als 3000 Menschen im Monat an. Doch trotz EU-Milliardenhilfe gelang es nicht, deren Asylanträge schnell zu entscheiden. So kam es zu den unwürdigen Bedingungen auf den Inseln, weil sie viel zu lange festgehalten wurden.
tagesschau.de: Angela Merkel wiederum musste auch in der eigenen Partei viel Kritik für ihren Kurs hinnehmen, zum Teil bis heute.
Knaus: Dafür hatte Merkel parteiübergreifende Unterstützung in der Gesellschaft. Es gab im Herbst 2015 auch keine Partei im Bundestag, die wie der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán damals forderte, Menschen mit Gewalt an der Grenze zurückzustoßen.
Im Dezember 2015 erhielt die Kanzlerin beim CDU-Parteitag zehn Minuten Applaus, als sie ihre Politik verteidigte. Doch dort versprach sie auch, Kontrolle wieder herzustellen, durch eine Einigung mit der Türkei. Ohne dieses Versprechen und den März 2016 wäre es nicht gut ausgegangen.
tagesschau.de: Wie bewerten Sie die europäische Asylpolitik seit 2015?
Knaus: Wir haben derzeit einen Zustand der Rechtlosigkeit an der europäischen Außengrenze. Dabei wäre es nie leichter als heute, eine humane Grenzpolitik umzusetzen, da seit 2017 immer weniger Menschen irregulär kamen. Wir brauchen dazu schnelle und faire Verfahren, humane Aufnahmeeinrichtungen, Einigungen mit Herkunfts- und Transitländern zur schnelleren Rückführung jener, die nach dem Verfahren keinen Schutz in der EU brauchen.
"Falsche Erwartung, in der Krise zu gemeinsamer Politik zu finden"
tagesschau.de: Es gibt bis heute noch keine gemeinsame europäische Migrationspolitik, sagt Kanzlerin Merkel. Wo liegen die Ursachen?
Knaus: Es war unrealistisch zu erwarten, auch seitens Deutschlands, dass mitten in der Krise eine gemeinsame europäische Asylpolitik entstehen kann. Ich glaube auch heute nicht, dass es möglich ist, Altruismus und Aufnahmebereitschaft zu europäisieren.
Es gibt Regierungen, nicht nur Ungarn und Polen, die politisch davon profitieren, dagegen zu sein. Sie sind kaum betroffen, instrumentalisieren aber die abstrakte Angst vor irregulärer Migration. Wir brauchen eine Koalition von Staaten in der EU für eine humane Flüchtlingspolitik. Doch derzeit fehlt auch eine klare, realistische Vision.
tagesschau.de: Wie sähe die aus?
Knaus: Etwa so: Alle EU-Länder beteiligen sich an großzügiger Hilfe für Flüchtlinge in Drittstaaten. Alle bieten Herkunftsländern in Afrika, die ihre ausreisepflichtigen Bürger schnell zurücknehmen, Anreize, dies zu tun. Wer jedoch irregulär die EU erreicht und Schutz erhält, wird von Städten oder Paten nach dem kanadischen Vorbild freiwillig aufgenommen und diese dafür aus einem EU-Fonds großzügig unterstützt. So bekäme die EU eine humane Außengrenze.
tagesschau.de: Also keine europäische Einigung unter der jetzt laufenden deutschen Ratspräsidentschaft in Sicht?
Knaus: Leider nicht. Doch mit einer klaren Strategie, kIuger Migrationsdiplomatie und einer Koalition von Staaten könnte es gelingen, Ideen der Ratspräsidentschaft umzusetzen, ohne auf alle warten zu müssen: Wenn etwa Deutschland, Griechenland und einige andere Länder einen Weg fänden, irreguläre Migration in der Ägäis zu reduzieren, ohne - so wie jetzt - das Flüchtlingsrecht jeden Tag zu brechen.
"Kooperieren mit Libyen hieße Verrat unserer Werte"
tagesschau.de: Was würde das jetzt konkret bedeuten: Ähnliche Abkommen wie mit der Türkei auch mit Nordafrika?
Knaus: Wir brauchen Partner, wenn wir eine Migrationskontrolle und das Bewahren der Menschenrechte unter einen Hut bringen wollen. Man sollte etwa einem Land wie Tunesien Anreize bieten, seine ausreisepflichtigen Staatsbürger schnell zurückzunehmen und ihnen Möglichkeiten der legalen Einreise bieten, etwa Visafreiheit für Besucher in Aussicht stellen. Das würde die Zahl der Tunesier sofort reduzieren, die sich in Boote setzen. Derzeit sind Tunesier die größte Gruppe, die über das Mittelmeer kommt. Mit Tunesien könnte man kooperieren. Mit Libyen ist es ein Verrat unserer Werte.
tagesschau.de: Sie empfehlen ein zweites Flüchtlingsabkommen mit der Türkei, obwohl das erste gescheitert ist und der Akteur politisch unzuverlässig bleibt - warum?
Knaus: Die Zustände auf den griechischen Inseln waren und sind katastrophal, doch das liegt nicht an der Türkei. Das war ein Versagen Europas. Die großzügige EU-Hilfe für Syrer in der Türkei seit 2016 war hingegen ein Erfolg und muss dringend verlängert werden. Das wäre Fluchtursachen-Bekämpfung, wie sie im Buche steht. Dann haben Flüchtlinge eine Chance auf ein würdiges Leben - und man reduziert gleichzeitig den Anreiz, in lebensgefährlichen Booten nach Europa zu fliehen.
Das Interview führte Corinna Emundts, tagesschau.de