Nach dem Ultimatum der Armee in Ägypten "Das Militär steht über der Politik"
Jahrzehntelang stellte das ägyptische Militär den Regierungschef. Das änderte sich mit der Wahl Mursis. An Einfluss habe die Armee dennoch nicht verloren, sagt Ägypten-Experte Stephan Roll im Gespräch mit tagesschau.de, das wir vor der Absetzung Mursis geführt haben.
tagesschau.de: Präsident Mursi ist auch oberster Befehlshaber der ägyptischen Streitkräfte. Trotzdem hat ihm das Militär nun ein Ultimatum gestellt. Schon 2011 hatte die ägyptische Armee maßgeblichen Anteil am Sturz von Diktator Hosni Mubarak. Wie groß ist der Einfluss des Militärs in Ägypten?
Stephan Roll: Die ägyptischen Präsidenten kamen bislang, einschließlich Mubarak, immer aus dem Kreis der Militärführung. Das ist mit Mohammed Mursi jetzt anders. Die Armeeführung hat im Zuge des Umbruchs 2011 erkannt, dass dieses alte Modell, dass der Staatspräsident aus dem Militär kommt, jetzt nicht mehr durchzusetzen ist. Aber das bedeutet eben nicht, dass das Militär nun der zivilen Führung unterstellt wurde. Das Militär sieht und sah sich immer schon als unabhängiger Akteur, der über der politischen Sphäre schwebt.
tagesschau.de: Warum schaltet es sich denn jetzt in den Konflikt ein?
Roll: Die Militärführung ist sehr besorgt um die Stabilität des Landes. Da spielen zum einen die Militärhilfen der USA eine Rolle. Mit jährlich 1,3 Milliarden US-Dollar finanziert Washington rund 80 Prozent der ägyptischen Rüstungsausgaben. Diese Einnahmen will man nicht verlieren, also versucht man schon eine Politik zu machen, die nicht völlig gegen die Interessen der USA geht. Und das Interesse der USA ist ganz klar, dass Ägypten möglichst stabil bleibt.
"Das Militär unterhält auch ein Wirtschaftsimperium"
Roll: Es geht aber auch darum, dass das Militär ein Staat im Staat ist. Allein in der Wirtschaft, so sagen Schätzungen, werden bis zu 15 Prozent des ägyptischen Bruttoinlandsproduktes von - oftmals defizitären - Militärunternehmen erwirtschaftet. Wenn es zum Staatsbankrott kommt, dann würde auch dieser aufgeblähte Militärapparat nicht mehr zu finanzieren sein. Und deswegen können die Generäle nicht zusehen, wie das Land in Chaos versinkt.
Das Militär ist momentan der einzige funktionierende Akteur, denn im Militär sind die Hierarchien noch intakt. Deshalb ist es auch handlungsfähig. Der innere Sicherheitsapparat, also die Sicherheitskräfte, die dem Innenministerium unterstehen, ist das sicherlich nicht mehr seit Anfang 2011. Das Militär ist also der zentrale Akteur in Ägypten und deswegen hoffen viele Ägypter, dass das Militär die Situation stabilisiert und die politischen Akteure zwingt, Kompromisse einzugehen.
tagesschau.de: Nach dem Sturz Mubaraks 2011 übernahm der Militärrat die Führung des Landes. Ist ein solcher Schritt jetzt wieder vorstellbar?
Roll: Ich glaube nicht, weil das Militär sich nach dem Sturz Mubaraks die Finger verbrannt hat und sehr an Popularität in der Bevölkerung verloren hat. Deswegen ist es jetzt auch erstaunlich, dass offensichtlich in weiten Teilen der Bevölkerung das Militär als letzte Rettung gesehen wird. Man hat da offensichtlich schnell vergessen, dass das Militär sich in dieser Übergangsperiode 2011 keineswegs mit Ruhm bekleckert hat.
"Es gab einen Pakt zwischen Muslimbrüdern und Militär"
tagesschau.de: Die Rolle des Militärs bei den Protesten gegen Mubarak wurde ja bis heute nicht aufgearbeitet. Im Gegenteil: Präsident Mursi verhinderte entsprechende Gerichtsverfahren. Gab es da eine Art Pakt zwischen Armee und Muslimbrüdern?
Roll: Zwischen dem Militär und der Muslimbruderschaft gab es 2012 sicherlich so etwas wie eine stille Übereinkunft, dass man die gegenseitige Machtsphäre anerkennt. Das zeigt sich auch ganz klar in der ägyptischen Verfassung, die 2012 unter dem Druck der Muslimbrüder verabschiedet wurde. Hier hat das Militär weitreichende Autonomie.
Diesen Teil der Verfassung stellen inzwischen sogar die meisten organisierten politischen Kräfte in Ägypten, also auch die Opposition in Form der "Nationalen Befreiungsfront", gar nicht mehr infrage. Das ist eine problematische Entwicklung, weil die Rolle des Militärs in dieser Verfassung sicher nicht demokratiekompatibel ist. Gerade die Forderungen der Aktivisten, die jetzt auf die Straße gehen, sind nicht vereinbar mit dem, was das Militär will und was es sich unter einem neuen politischen System vorstellt.
Trotzdem: Die Militärführung hat aus 2011 gelernt. Eine zweite Machtübernahme, wie wir es unter Mohammed Hussein Tantawi, dem Vorgänger des jetzigen Militärchefs General Abdel Fatah al Sissi, gesehen haben, wird es wohl nicht geben. Das Militär wird eher versuchen, vermittelnd einzugreifen und etwas wie eine Regierung der nationalen Einheit zu ermöglichen, bei der möglichst viele politische Kräfte vertreten sind.
Das Interview führte Jan Ehlert, tagesschau.de.