Interview zu ukrainisch-russischen Beziehungen "Putin verachtet Janukowitsch"
Die Demonstranten in der Ukraine wollen Präsident Janukowitsch loswerden, Russlands Präsident Putin stärkt ihm - noch - den Rücken. Doch nicht aus Sympathie, sondern weil er ihn braucht, sagt Stephan Meuser, für die Friedrich-Ebert-Stiftung in Kiew, tagesschau.de.
tagesschau.de: Wo in Kiew sind Sie? Ist es bei Ihnen ruhig?
Stephan Meuser: Ich bin ungefähr anderthalb Kilometer südwestlich vom Maidan, hier ist es ruhig. Viele Leute kommen natürlich wegen der Straßensperren gar nicht mehr in die Stadt. Die Kollegen, die so wie ich in der Stadt wohnen, schlagen sich eben durch. Hier ist dann normaler Betrieb auf der Straße, Menschen sind auf dem Bürgersteig und anderthalb Kilometer weiter brennen die Barrikaden. Das ist absurd, aber so ist es.
tagesschau.de: Wie sind die Leute auf der Straße organisiert? Wer ist da unterwegs?
Meuser: Das war und ist ein großes Konglomerat. Angefangen hat es ja als Protest von Studenten dagegen, dass der Präsident sich plötzlich gegen eine Annäherung an die EU ausgesprochen hat. Wir sehen immer noch sehr viele junge Leute, die hier mit anpacken, Steine aus dem Pflaster kloppen oder einfach nur Brot und Wasser vorbei bringen. Außerdem ein ganzes Spektrum: von Menschen, die einfach nur ihr Land und ihre Art zu leben verteidigen wollen, bis hin zu denen, die sich von vornherein mit Knüppeln und Schlimmerem bewaffnen. Die sind teilweise auch organisiert in Gruppen, die dann Namen tragen wie "Rechter Sektor", und der Name ist dann leider auch Programm.
tagesschau.de: Wie stellen sich diese Gruppen denn eine Ukraine nach dem Konflikt vor?
Meuser: Sie sind zumindest so wütend, dass sie den sofortigen Rücktritt des Präsidenten wollen. Als das Abkommen hier auf dem Maidan verkündet wurde, gab es keinen Jubel. Politisch sind das Leute, die vor allem im Westen der Ukraine anzusiedeln sind. Dort gibt es einen pro-ukrainischen - und das bedeutet leider auch anti-russischen - Nationalismus. Der verträgt sich in einer eher kuriosen Weise mit der EU und der Zugehörigkeit zum Westen, weil eben anti-russisch hier gleichbedeutend ist mit irgendwie pro-westlich. Wenn es eine Übergangsregierung gibt und die parlamentarische Opposition sich daran beteiligt, dann wird es sehr schwer für Vitali Klitschko und Arsenij Jazenjuk, diese Leute mitzunehmen.
Janukowitschs Exit-Optionen
tagesschau.de: Wie realistisch ist angesichts drohender Strafverfolgung überhaupt, dass sich Präsident Viktor Janukowitsch auf einen Rücktritt einlässt?
Meuser: Die letzten drei Monate haben mich da ziemlich ernüchtern lassen. Wenn, dann käme da der Westen ins Spiel. Ich hoffe, dass darüber in der letzten Nacht gesprochen wurde. Man könnte ihm und seiner Familie eine Art sicheres Geleit geben. Er würde dann seinen Lebensabend außerhalb des Landes verbringen, meinetwegen unter Mitnahme beträchtlicher Summen, und so auf eine relativ elegante Art und Weise den Rücktrittsforderungen gerecht werden.
tagesschau.de: Wie geschlossen stehen seine eigenen Leute noch hinter Janukowitsch?
Meuser: Bis vorgestern gab es solche Absetzbewegungen nicht. Das bröckelt seit Donnerstag. Unter dem Eindruck der Straßenschlachten und der Toten haben einige Parteimitglieder beschlossen, parlamentarisch die Seiten zu wechseln. Hier in Kiew ist der Chef der Stadtverwaltung aus der Partei der Regionen ausgetreten. Er wollte nicht länger verantworten, was hier passiert. Aber der harte Kern hält sicherlich die Stange. Und man darf nicht vergessen, dass es Leute gibt, die ihn gewählt haben. Im Osten hat Janukowitsch auch jetzt noch zwanzig, dreißig oder sogar mehr Prozent Unterstützung. Das kann man nicht einfach ignorieren.
Keine Spaltung in Sicht?
tagesschau.de: Könnte da tatsächlich eine Spaltung des Landes drohen?
Meuser: Das hoffe ich nicht. Im Eifer des Gefechts wird so etwas angedroht, aber in einem Vierteljahrhundert staatlicher Unabhängigkeit hat sich das Land letztlich immer wieder zusammengerauft. Insofern bin ich noch Optimist.
tagesschau.de: Woran liegt es, dass die Leute im Osten auf der Seite von Janukowitsch sind?
Meuser: Zunächst mal gibt es handfeste wirtschaftliche Gründe: Jährlich fließen Subventionen in Milliardenhöhe in diese Gebiete. Das zweite ist eine diffuse, emotionale Nähe. Man fühlt sich verbunden mit Russland, spricht die russische Sprache. Aus Sowjetzeiten kommt bei einigen der Gedanke, dass es einen führenden Politiker im Land geben muss, der für Ruhe, Ordnung und Gerechtigkeit sorgt. Das waren die Wogen, auf denen Janukowitsch 2010 zum Wahlsieg geritten ist.
"Putin verachtet Janukowitsch, braucht aber die Ukraine"
tagesschau.de: Steht Putin noch zu hundert Prozent hinter Janukowitsch?
Meuser: Ich glaube persönlich, dass Putin Janukowitsch ganz tief in seinem Inneren verachtet. Weil er - aber das ist natürlich Spekulation - nicht schon sehr früh hart und brutal zugeschlagen und die aus Putins Sicht unschöne Situation beendet hat. Aber wenn Putins Projekt einer Eurasischen Union Erfolg haben soll, dann hat es wenig Sinn, wenn er nur Weißrussland und einige zentralasiatische Länder dabei hat. Der große Brocken - von der Bevölkerungszahl, aber auch von der Wirtschaftskraft her - ist die Ukraine. Das ganze Projekt hat nur Sinn, wenn die Ukraine mitmacht.
tagesschau.de: Das heißt, Putins Loyalität hängt nicht an der Person Janukowitsch?
Meuser: Ich denke, dass Putin sich mit einer anderen Regierung abfinden könnte, ja. Man darf nicht vergessen, dass er vor Jahren mal Julia Timoschenko den "einzigen Mann in der ukrainischen Politik" genannt hat und letztlich auf einer ganz praktischen Ebene mit ihr auch ganz gut zusammengearbeitet hat.
tagesschau.de: Spielt Timoschenko im Moment irgendeine Rolle?
Meuser: Sie hat gestern Abend zum Sturz der Regierung und zum Kampf bis zum Ende aufgerufen. Diese Position war für die Verhandlungen sicher nicht hilfreich, aber sie hat ihre eigene Partei noch ganz gut im Griff.
"Kontosperrungen durch die EU spielen keine Rolle"
tagesschau.de: Wie sehr würden die Sanktionen, über die von der EU gesprochen wird, den Präsidenten und seine Leute treffen?
Meuser: Man muss ganz zynisch davon ausgehen, dass es wirtschaftlich keine Rolle spielt, wenn sie da jetzt ein Konto sperren. Jeder, der etwas zu verbergen hat, hat sein Geld wahrscheinlich schon in die Karibik transferiert. Die EU hatte sich das Stöckchen mit den Sanktionen wohl schon so hochgehalten, dass sie allein wegen der eigenen Glaubwürdigkeit jetzt auch darüber springen muss. Ich halte das für einen richtigen Weg, aber wir sollten nicht erwarten, dass da am nächsten Tag politische Wirkungen zu erwarten wären.
tagesschau.de: Gäbe es denn jenseits von EU und Russland einen glaubwürdigen neutralen Vermittler?
Meuser: Die Idee wäre, jemanden von der OSZE zu nehmen. Jetzt führt mit der Schweiz ja sozusagen das klassische Vermittlerland den Vorsitz. In der OSZE sind die EU-Staaten, die Russen, die Amerikaner und die Kanadier vertreten, unter diesem Dach könnte man jeden einbinden.
Das Interview führte Kian Badrnejad für tagesschau.de