Nahost-Experte über den Konflikt im Jemen "Die Gefahr von Anschlägen wächst"
Wenn die Saudis ihre Luftangriffe im Jemen nicht beenden, droht der Konflikt zu eskalieren. "Von dem Chaos im Land profitiert vor allem Al Kaida", sagt Nahost-Experte Guido Steinberg im tagesschau.de-Interview. Eine Gefahr - auch für Europa.
tagesschau.de: Der Vormarsch der Huthi-Rebellen im Jemen scheint nur schwer zu stoppen zu sein. Wer sind diese Rebellen und warum sind sie so schlagkräftig?
Guido Steinberg: Die Huthi-Rebellen sind eine schiitische Bewegung aus dem Nordjemen. Sie waren zwischen 2004 und 2011 bereits mehrmals in kurze Bürgerkriege mit der Zentralregierung in der Hauptstadt Sanaa verwickelt. Sie geben vor, die zaiditische Minderheit im Land zu vertreten, der etwa 30 bis 35 Prozent der Bevölkerung angehören. Die Zaiditen sind eine schiitische Gemeinschaft, die der Sunna recht nahe steht und somit eigentlich nur wenige Konfliktpunkte mit dem Sunnitentum hat.
Ursprünglich war ihre Motivation, sich gegen den wachsenden Einfluss von Salafisten und gegen die Vernachlässigung des Nordens durch die Regierung zu wehren. Man konnte seit den 1980er-Jahren in den zaiditischen Gebieten im Norden des Landes beobachten, dass salafistische Prediger auftraten, Schulen und Institute gründeten, um die Zaiditen zum Sunnitentum zu bekehren. Das war der Anlass des Konflikts, der die Zaiditen gegen die Zentralregierung aufbrachte. Sie warfen ihr vor, diese Angriffe auf ihre kulturelle und religiöse Identität zu unterstützen.
Infolge der Wirren des arabischen Frühlings sind ihre Gegner so schwach geworden, dass die Huthi-Rebellen in der Lage waren, die Hauptstadt Sanaa einzunehmen. Sie sind sehr gut trainiert, diszipliniert und ausgerüstet. Ihre Stärke erklärt sich aber auch dadurch, dass Truppen, die dem Ex-Präsidenten Ali Abdullah Saleh gegenüber loyal sind, an dem Vormarsch beteiligt sind. Der ehemalige Präsident sieht offensichtlich eine Chance, wieder an Einfluss zu gewinnen.
"Huthi-Rebellen sind keine Befehlsempfänger Teherans"
tagesschau.de: Warum hat jetzt Saudi-Arabien in diesen Konflikt eingegriffen? Wer kämpft eigentlich gegen wen?
Steinberg: Saudi-Arabien hat Partei ergriffen für den immer noch amtierenden Präsidenten Abed Rabbo Mansur Hadi. Die Saudis sind der Meinung, dass die schiitischen Huthi-Rebellen vom schiitischen Iran unterstützt werden und Waffen, Geld und Training von dort bekommen. Sie möchten vor allem verhindern, dass an ihrer Südwestgrenze ein dem Iran höriges Regime entsteht. Ob die Huthis tatsächlich stark vom Iran abhängig sind, ist allerdings umstritten. Ich halte die Huthi-Rebellen in jedem Fall für einen unabhängigen Akteur. Sie entscheiden selbst und sind keine Befehlsempfänger Teherans.
Präsident Hadi, der sich in die Hafenstadt Aden abgesetzt hat, wird international immer noch als Regierungschef angesehen und hat nicht nur die Unterstützung der Saudis, sondern auch ihrer Verbündeten. Er verfügt nach wie vor über loyale Einheiten des Militärs. Zudem gibt es im Süden schon seit längerer Zeit eine Separatistenbewegung, die sich jetzt teilweise auf die Seite des Präsidenten stellen.
Wenn die saudi-arabische Intervention die Iraner jetzt tatsächlich veranlasst, Geld und Waffen in größerem Maßstab an die Rebellen zu liefern, hätten wir einen Stellvertreterkonflikt. Ähnlich wie in Syrien, wo die Saudis und die Iraner ja ebenfalls unterschiedliche Konfliktparteien unterstützen.
"Beginnender Bürgerkrieg, der andauern könnte"
tagesschau.de: Kann man im Jemen noch von einer Regierung sprechen oder befindet sich das Land bereits mitten im Bürgerkrieg?
Steinberg: Die Rebellen haben faktisch im September 2014 schon die Hauptstadt Sanaa übernommen und die Zentralregierung damit abgesetzt. Präsident Hadi ist es dann in diesem Jahr gelungen nach Aden zu fliehen. Momentan versuchen die Huthi-Rebellen aber diese letzte Hochburg Aden auch zu stürzen und ihn festzunehmen. Er ist in einer schwachen Position, aber nicht so schwach, dass man erwarten muss, dass die Rebellen schnell das gesamte Land kontrollieren werden.
Wir befinden uns in einem beginnenden Bürgerkrieg und es sieht nicht danach aus, dass der schnell zu Ende ist. Vor allem nicht, nachdem die Saudis militärisch interveniert haben. Es wird sich in den nächsten Tagen zeigen, ob das ein länger anhaltender Bürgerkrieg wird oder nicht.
"Al Kaida kann dort frei schalten und walten"
tagesschau.de: Welche Rolle spielen Terrororganisationen wie Al Kaida oder der IS in dem Konflikt?
Steinberg: Man sieht überall in der Region, dass Terrororganisationen davon profitieren, wenn sich Bürgerkriege entwickeln. Im Jemen war das 2011 und 2012 schon so: Da hat der örtliche Ableger der Al Kaida, der sich "Al Kaida auf der arabischen Halbinsel" nennt, ein größeres Territorium im Süden des Landes eingenommen. Genau das ist auch jetzt zu beobachten. Al Kaida profitiert enorm davon, dass die Regierung Hadi nicht mehr handlungsfähig ist. Auch die Amerikaner haben vor einigen Tagen ihre Militärberater aus dem Land abgezogen. Das heißt, Al Kaida kann dort frei schalten und walten. Die Gefahr, dass es zu Anschlägen kommt - zunächst mal im Jemen, in Saudi- Arabien aber auch in Europa - wächst weiter.
Dass der IS ebenfalls über Strukturen im Jemen verfügt, ist zweifelhaft. Die große Gefahr geht von Al Kaida aus.
tagesschau.de: Das heißt, der Konflikt im Jemen hat auch Auswirkungen auf die Sicherheitslage in Europa?
Steinberg: Ja. Da müssen wir nur auf die Anschläge von Paris schauen. Die beiden Charlie Hebdo-Attentäter, waren - der eine nachweislich, der andere wahrscheinlich - im Jahr 2011 im Jemen. Also gerade zu der Zeit, als die jemenitische Al Kaida für einige Monate Territorium kontrolliert hat. Dort wurden sie ausgebildet, dort haben sie den Auftrag für das Attentat bekommen. Die jemenitische Al Kaida ist seit einigen Jahren diejenige mit den kreativsten Versuchen, amerikanische und europäische Ziele zu treffen. Sie hat mehrfach versucht, Transatlantik-Flüge anzugreifen. Und es ist damit zu rechnen, dass sie das auch in den nächsten Jahren fortführt.
"Einzige Chance: politische Lösung"
tagesschau.de: Welche Gefahr droht für die Region?
Steinberg: Zunächst mal sind die Leidtragenden die Jemeniten, denen es ohnehin nicht gut geht. Der letzte Bürgerkrieg ist erst 21 Jahre her. Es ist das ärmste Land der Arabischen Welt. Es gibt nur eine rudimentäre öffentliche Infrastruktur und beispielsweise große Probleme mit der Wasserversorgung. Wenn dieser Konflikt jetzt länger andauert, wird das zu einer humanitären Katastrophe führen, so wie in Syrien und in Libyen. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass der Konflikt zwischen Saudis und Iranern sich ausweitet.
tagesschau.de: Was könnte helfen, den Konflikt in den Griff zu bekommen?
Steinberg: Die Amerikaner sollten versuchen, die Saudis dazu zu bringen, ihre Luftangriffe zu beenden und sich zurückzuhalten. Denn sie sind die einzigen, die Einfluss auf die Saudis haben. Die saudische Intervention ist eine Garantie dafür, dass der Konflikt sich verstetigt und womöglich eskaliert. Ich sehe die einzige Chance darin, die Konfliktparteien - wie schon im Jahr 2012 - an einen Tisch zu bekommen und nach einer politischen Lösung zu suchen. 2012 waren auch die Europäer und die Golfstaaten daran beteiligt. Das könnte auch diesmal helfen.
Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de