Interview zur Lage in Kirgistan "In Zentralasien droht eine Explosion"
Die Unruhen in Kirgistan breiten sich von der Stadt Osch auf die Umgebung aus. "Die Marodeure betreiben ethnische Säuberungen", berichtete der Journalist Marcus Bensmann aus Bischkek im tagesschau.de-Gespräch. Ohne internationale Intervention drohe eine Explosion in Zentralasien.
tagesschau.de: Was wissen Sie über die Situation in Osch im Süden Kirgistans?
Marcus Bensmann: Es herrscht eine trügerische Ruhe in Osch. Nur in den Außenbezirken wird noch geschossen. Aber die Anspannung ist sehr groß. Die Menschen stehen vor den Trümmern ihrer Häuser. Die usbekische Minderheit sammelt ihre Toten ein oder flieht nach Usbekistan.
tagesschau.de: Wie ist die Lage in der Umgebung von Osch?
Bensmann: Der Schwerpunkt der Unruhen hat sich auf Dschalal-Abad verlagert. Dort gibt es ethnische Säuberungen. Kirgisische Bewaffnete fahren in Autos herum, schießen in die Menschenmenge hinein, prüfen die ethnische Zugehörigkeit der Bewohner. Die Menschen sind zum großen Teil in Richtung usbekische Grenze geflohen. Eine Quelle in Dschalal-Abad sagte, es gebe dort keinerlei Polizei oder staatliche Gewalt. Die Marodeure hätten die Macht übernommen. Im Süden Kirgistans wird planmäßig und massenhaft die ethnische Minderheit verfolgt, ausgeraubt und getötet.
tagesschau.de: Die Chefin der Übergangsregierung, Otunbajewa, gibt dem Clan des gestürzten Präsidenten Bakijew die Verantwortung für den Ausbruch der Unruhen. Wie ist dies zu bewerten?
Bensmann: Es gibt den Mitschnitt eines Telefongesprächs zwischen einem der Söhne des Präsidenten und dessen Onkel, wo genau dieses Szenario durchgespielt wurde. Der Mitschnitt wurde Mitte Mai veröffentlicht. Was jetzt passiert, ähnelt dem sehr.
Der Mob will die Usbeken endgültig vertreiben
tagesschau.de: Wie kann man sich den Hintergrund des Konflikts erklären? Nutzen Clans und kriminelle Banden womöglich das Machtvakuum aus, das durch die Vertreibung von Präsident Bakijew im April entstanden ist? Finden sie in der arbeitslosen und unzufriedenen Bevölkerung willige Unterstützer?
Bensmann: Durch Zentralasien verläuft eine große Drogenroute. Davon profitieren die kriminellen Banden in Kirgistan. Interessant ist, dass die Marodeure keinerlei politische Forderungen stellen, auch nicht, die Macht zu übernehmen, sondern nur, die Usbeken zu töten. Es ist ein ethnischer Konflikt, eine ethnische Säuberung, die vielleicht soziale und innere politische Ursachen hat. Aber das ist aus dem Ruder gelaufen. Es geht den kirgisischen Marodeuren und dem Mob jetzt darum, die Usbeken endgültig aus Südkirgistan zu vertreiben.
tagesschau.de: Russlands Präsident Medwedjew hatte schon im April vor einem Bürgerkrieg in Kirgistan gewarnt. Außerdem beansprucht Russland seine Nachbarländer als privilegierte Einflusszone. Doch bislang reagiert Russland nur sehr zögerlich.
Bensmann: Russland muss jetzt reagieren und das kann es nur mit der Rückendeckung der NATO. Europa und die NATO sollten Russland drängen und Mithilfe anbieten. Nur mit einer internationalen Truppe kann man die Grausamkeiten in Südkirgistan beenden. Es ist jetzt eine Frage an die Weltgemeinschaft, dem Morden nicht zuzusehen, sondern ihm Einhalt zu gebieten.
Die EU schaut nur zu
tagesschau.de: Vertreter der OSZE und EU-Vertreter reisen regelmäßig ins Land und schauen sich die Lage an. Doch wird etwas getan?
Bensman: Das ist im Grunde genommen der große Skandal, dass die EU zuschaut, wie Menschen umkommen. Zentralasien ist geopolitisch wichtig, weil darüber die Nordroute für den Afghanistankrieg entlangläuft. Wenn der Westen jetzt nicht hilft, verliert er im Grunde genommen Zentralasien und Afghanistan dazu.
tagesschau.de: Besteht die Gefahr, dass sich die Unruhen nicht nur auf ganz Kirgistan, sondern auch auf die Nachbarländer ausbreitet?
Bensmann: Wenn jetzt nicht bald internationale Intervention kommt, explodiert ganz Zentralasien.
Das Interview führte Silvia Stöber, tagesschau.de