Kommentar

EU-Streit in der Flüchtlingspolitik Das gefährliche Grenzbaum-Revival

Stand: 19.01.2016 19:25 Uhr

Gemeinsam könnten die EU-Staaten groß sein, aber nur wirklich gemeinsam. In der Flüchtlingskrise jedoch haben sie in einen erbärmlichen Kleingarten-Modus geschaltet. Der Schaden für alle ist immens und wächst von Tag zu Tag.

Ein Kommentar von Kai Küstner, ARD Brüssel

Das Zitat ist Jahrzehnte alt, aber es eignet sich - leider - besser denn je, um das zu beschreiben, was gerade jetzt in der EU passiert: "Alle Länder Europas sind klein, einige von ihnen wissen das nur noch nicht." So lautet der bekannte Satz des etwas weniger bekannten Gründungsvaters der Europäischen Union, Paul-Henri Spaak.

Übersetzt heißt der Satz: Nationaler Egoismus ist Unfug, nur im europäischen Verbund gibt es annähernd die Chance auf so etwas wie "Größe". Leider aber sind die Einzelstaaten der EU gerade eifrig dabei, sich kleiner zu machen als sie eigentlich sein müssten - und die ganze Union gleich mit. Macht Europa so weiter und immer mehr Grenzen dicht, wird die EU bald wieder ein weltpolitischer Winzling sein. Und ein moralischer sowieso.

Erbärmliches Ergebnis eines langen Streits

Spätestens seit dem Sommer wird über die Flüchtlingsfrage diskutiert und gestritten. Das erbärmliche Ergebnis: Eine europäische Lösung gibt es nicht. Und es gibt auch keine Anzeichen dafür, dass die in den nächsten Monaten gefunden wird. Nur nochmal zur Erinnerung: Würde man etwa die in Deutschland angekommenen ungefähr eine Million Schutzsuchenden auf einen Kontinent mit mehr als 500 Millionen Bewohnern aufteilen - die sogenannte Flüchtlingskrise, die doch eher eine EU-Krise ist, wäre keine.

So aber erinnert sich nun ein Land nach dem anderen daran, dass es ja noch die alten Grenzbäume von damals in den Schuppen stehen hat und stellt sie wieder auf. Oder droht zumindest damit. Wer aber glaubt, der offenbar als Bedrohung empfundenen Globalisierung mit Zäunen oder Mauern begegnen zu können, der irrt.

Die Folgen werden immer schlimmer

Je mehr Europa dicht macht, umso schwerwiegender die Folgen: zum einen natürlich für die Flüchtlinge selbst. Je zahlreicher und höher die Hindernisse, denen man ihnen in den Weg stellt, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass sie beim Versuch ihrer Überwindung ums Leben kommen. Sollte Europa sich in einen Kontinent verwandeln, der dies mehr und mehr wissentlich in Kauf nimmt, sollte er künftig komplett aufhören damit, andere Erdteile in Menschenrechtsfragen zu belehren.

Zum anderen aber schadet die EU sich selbst: Sie riskiert da viel mehr als nur stundenlange Auto-Warteschlangen bei der Urlaubsreise. Abgesehen davon, dass mit jeder neuen Grenze auch jeweils eine neue Grenze in den Köpfen der Europäer entsteht - die wirtschaftlichen Kosten sind schon jetzt zu spüren. Allein durch die Passkontrollen auf der Öresund-Brücke zwischen Dänemark und Schweden gingen der Wirtschaft jährlich rund 300 Millionen Euro flöten, rechnet die EU-Kommission vor. Gäbe es in ganz Europa wieder Grenzen, wäre der Schaden massiv, die Arbeitslosigkeit würde steigen.

Gar nicht daran denken mag man, was in den labilen Ländern auf dem Balkan oder auch im armen Griechenland los wäre, wenn etwa Deutschland und Österreich ihre Grenzen immer mehr abdichten und die mit den Schutzsuchenden alleine lassen.

Europa hat keine Wahl: Es muss der Versuchung widerstehen, in Kleingärtner-Manier seinen Kontinent wieder in winzige Parzellen zu zerlegen. Damit würde ein großer, europäischer Gedanke sterben. Und die EU-Einzelstaaten würden sich mehr schaden, als sie offenbar vorauszuahnen in der Lage sind. Denn: "Alle Länder Europas sind klein, aber einige wissen das noch nicht."

Kai Küstner, K. Küstner, NDR Brüssel, 19.01.2016 19:29 Uhr
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Dieses Thema im Programm: Dieser Beitrag lief am 19. Januar 2016 um 19:06 Uhr im Deutschlandfunk.