Interview

Situation im Irak Wie verlässlich sind die Kurden?

Stand: 19.08.2014 17:30 Uhr

Der Westen setzt im Kampf gegen den IS im Irak auf die Kurden und unterstützt sie mit Waffenlieferungen. Doch was bedeutet das eigentlich langfristig? Und wie verlässlich sind die Kurden überhaupt? Darüber sprach tagesschau.de mit der Politologin Bente Scheller.

tagesschau.de: Die kurdischen Peschmerga sind die einzigen, die den IS-Islamisten im Irak noch die Stirn bieten - zumindest wird das derzeit öffentlich so wahrgenommen. Ist das tatsächlich so?

Bente Scheller: Ja, derzeit kämpfen im Prinzip nur die kurdisch-irakischen Peschmerga-Einheiten gegen den IS.

Zur Person
Bente Scheller leitet seit 2012 das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Beirut. Zu ihren Forschungsgebieten gehören Syrien und der Irak. Im Februar erschien ihr Buch "The Wisdom of Syria's Waiting Game: Foreign Policy Under the Assads".

tagesschau.de: Aber welche Rolle spielt denn die türkische PKK im Irak? In mehreren Presseberichten hieß es, dass nicht die Peschmerga, sondern PKK-Kämpfer aus der Türkei die Jesiden im Sindschar-Gebirge gerettet hätten.

Scheller: Das ist derzeit nicht so einfach zu überblicken. So wie ich es verstehe, drängen hauptsächlich die Peschmerga den IS im Irak zurück. Die Rettungsaktion war aber in der Tat eine Kooperation zwischen den Peschmerga und der PKK.

tagesschau.de: Eigentlich konkurrieren die beiden Gruppierungen doch seit Jahren miteinander.

Scheller: Ja, das ist definitiv eine ungewöhnliche Entwicklung. Es gibt diverse Konflikte zwischen den kurdischen Gruppierungen. Doch angesichts der sehr greifbaren Bedrohung durch den IS haben sie sich zusammengetan.

Westliche Waffen auch für die PKK?

tagesschau.de: Die PKK steht aber ja nach wie vor auf der Terrorliste der USA und der EU. Wenn nun die Peschmerga und die PKK im Irak so eng kooperieren, könnten eventuelle Waffenlieferungen des Westens dann doch auch bei PKK-Kämpfern landen. Ist das nicht problematisch?

Scheller: Das ist eines der Probleme, das die Diskussion auch so kontrovers macht. Man kann mit all den Entwicklungen derzeit nicht Schritt halten. Es ist in der Vergangenheit ja durchaus diskutiert worden, ob man die PKK nicht von der Terrorliste streichen sollte, insbesondere, weil die Türkei und die PKK sich zuletzt angenähert haben.

tagesschau.de: Wie sah die Annäherung der türkischen Regierung und der PKK genau aus?

Scheller: Vor einigen Monaten haben der inhaftierte PKK-Führer Abdullah Öcalan und die türkische Regierung überraschend ein offizielles Übereinkommen getroffen. Es war ein erstes Zeichen der Entspannung. Und auch bei der Rettung der Jesiden hat die PKK sicher die türkische Regierung einbezogen. Denn die geretteten Menschen mussten ja irgendwo hin. Beide Seiten reden also miteinander, da ist viel in Bewegung. Wenn es zwischen der PKK und der Türkei aber eine Annäherung gibt, dann verändert das auch für die USA oder die EU die Diskussionsgrundlage - und es bewegt sie möglicherweise dazu, die PKK von der Terrorliste zu nehmen.

"Irakisch-Kurdistan ist korrupt"

tagesschau.de: Wie verlässlich sind die irakischen Kurden für den Westen denn eigentlich? Der Herausgeber der "Kurdistan Tribune"* (*Anmerkung der Redaktion: Die "Kurdistan Tribune" versteht sich als unabhängige Plattform für Nachrichten zu kurdischen Anliegen) , Mufid Abdulla, hat beispielsweise gesagt, dass eigentlich ganz Irakisch-Kurdistan notorisch korrupt sei.

Scheller: Den Eindruck haben wir auch. Man darf sich keinen Illusionen darüber hingeben, wie es beispielsweise um die Demokratie in Irakisch-Kurdistan bestellt ist. Alleine schon wenn man sich die Machtverteilung anschaut. Die beiden großen kurdischen Parteien werden seit Jahrzehnten von zwei Familien bestimmt: Barsani und Talabani. Irakisch-Kurdistan ist korrupt und auch in vielerlei anderer Hinsicht nicht der Wunschpartner, wenn man sich lupenreine Demokraten wünscht. Aber die Hauptbedrohung stellt im Moment der IS dar. Da braucht der Westen Partner - und guckt nicht mehr so genau hin, wie es um ihren restlichen Wertekanon steht.    

Der Führer der Kurden im Irak, Barsani.

Der Führer der Kurden im Nordirak, Barsani.

tagesschau.de: Was bedeutet das langfristig?

Scheller: Der Hauptantrieb der Kurden ist im Moment, ihren eigenen Landesteil zu schützen. Aber der Einsatz dient auch dazu, sich dem Westen als Partner anzubieten. Dementsprechend ist die Hoffnung der Kurden groß, dass am Ende eine Belohnung wartet. Teile davon sehen wir jetzt schon: Die Forderung nach Bewaffnung und Unterstützung stammt ja schon aus dem Katalog dessen, was die Kurden sich vom Westen versprechen. Und diese Liste wird noch länger werden. Am Schluss hat man dann das Problem: Was macht man nun mit diesen Partnern?

Doch das Problem IS hat eine Größenordnung, mit der wir es im Nahen Osten noch nie zu tun gehabt haben. Wenn man den Islamisten etwas entgegensetzen möchte, ist man einfach auf die Kurden angewiesen.

Kommt ein Kurden-Staat?

tagesschau.de: Laut Schätzungen leben bis zu 30 Millionen Kurden im Länderviereck Türkei, Irak, Iran und Syrien – sie repräsentieren das größte Volk der Welt ohne eigenen Staat. Wird der Kampf gegen den IS die kurdischen Autonomiebestrebungen befördern?

Scheller: Wahrscheinlich ja. Doch zugleich sollte man sich keinen falschen Vorstellungen hingeben. Die Rivalitäten unter den einzelnen kurdischen Gruppen waren in der Vergangenheit immer groß. Viele Fragen sind ungeklärt: Wie soll man einen solchen Staat überhaupt regieren, wenn er denn kommt? Wie wird die Macht verteilt?

tagesschau.de: Die aktuelle Einigkeit unter den Kurden ist also vorübergehend.

Scheller: Das halte ich für wahrscheinlich. Denn die momentane Harmonie fußt auf dem gemeinsamen Gegner - und nicht darauf, dass jahrelange Streitpunkte inhaltlich geklärt wurden.    

Das Interview führte Sarah Welk, tagesschau.de