Ein Foto des verstorbenen Hisbollah-Führers Nasrallah steht neben beschädigten Gebäuden nach einem israelischen Angriff auf die Stadt Tyrus im Libanon
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Konflikt mit Israel Warum im Libanon die Wut auf die Hisbollah wächst

Stand: 02.11.2024 11:24 Uhr

Auch wenn Israel manche Gegenden viel stärker angreift als andere - der ganze Libanon leidet massiv unter der aktuellen Eskalation. Und viele im Land geben der Hisbollah die Schuld, dass es so weit kam.

Eine Analyse von Martin Durm, SWR

Ist der neue Hisbollah-Führer Naim Kassim noch im Land? Oder hat er sich nach Teheran verdrückt, damit es ihm nicht ähnlich ergeht wie seinem berühmten Vorgänger Hassan Nasrallah, den Israel Ende September in Beirut mit einem massiven Luftschlag eliminierte? Oder so wie Haschim Safi al-Din, der Nasrallah nachfolgen sollte und Anfang Oktober getötet wurde.

Jeder Hisbollah-Führer steht auf der Todesliste der Israelis, und Naim Kassim mit Sicherheit ganz oben als Nummer 1. Aber egal, wo er sich dieser Tage versteckt - in Beirut oder in Teheran -, es gibt auch im Libanon sehr viele Menschen, die ihm keine Träne nachweinen würden.

"Das ist der Krieg der Hisbollah"

"Als Nasrallahs Tod bestätigt wurde, dachte ich: Die Welt ist jetzt ein etwas besserer Ort", sagt Ibrahim Assakram von der christlichen Partei Forces Libanaises. Er lebt wie die meisten Christen im Osten des Landes, der bislang von schweren Luftangriffen verschont blieb. Aber er muss dabei zusehen, wie der Libanon wegen des Krieges zugrunde geht.

"Das ist der Krieg der Hisbollah", sagt er, "kein Krieg, den der Libanon gegen Israel führt. Die Hisbollah ist eine Terrororganisation, sie hat uns da reingezogen." Und hinter ihr stehe der Iran, der sich in der ganzen Region ausbreiten wolle.

Seit Jahrzehnten Hisbollah-Gegner

Die christlichen Parteien Forces Libanaises und Kataib waren schon immer eingefleischte Gegner der Hisbollah, die Feindschaft reicht zurück bis in die Zeiten des 15-jährgen Bürgerkriegs. 150.000 Libanesen wurden damals getötet, aber die alten Warlords und Clans sind immer noch da - Samir Geagea, die Gemayels; auch der neue Hisbollah-Chef Kassim begann seine Karriere Anfang der 1980er-Jahre, als iranische Revolutionswächter in Beirut die Hisbollah gründeten.

Nach dem Ende des Bürgerkriegs im Jahr 1990 wurde die von Teheran hochgerüstete Schiitenmiliz zur dominierenden Kraft im Libanon. Sie lähmt seitdem jeden politischen Prozess, der ihre Machtstellung bedrohen könnte. Sie blockiert die Justiz, hat das ganze staatliche System ausgehöhlt und unterwandert.

Kapitulation gehört nicht zur Hisbollah-DNA

Drei Jahrzehnte später ist wieder Krieg im Libanon. Der Verlust des Führungspersonals und die ständigen israelischen Luftangriffe haben die Hisbollah zwar empfindlich geschwächt. Aber sie ist immer noch in der Lage, täglich bis zu 200 Raketen über die Grenze feuern. Die Hisbollah scheint nach wie vor stark genug, um zu entscheiden, ob es im Libanon einen Waffenstillstand oder einen Abnutzungskrieg geben wird.

Ein ums andere Mal appelliert der geschäftsführende Ministerpräsident Nadschib Mikati an die Kriegsparteien, doch bitte endlich die UN-Resolution 1701 umzusetzen: Rückzug der Israelis hinter die Demarkationslinie, Rückzug der Hisbollah hinter den Litani-Fluss, Überwachung der entmilitarisierten Pufferzone durch die libanesische Armee und UNIFIL-Truppen. Wenn das geschehen sei, müsse die Hisbollah ihr Waffenarsenal an die libanesische Armee übergeben, fordern christliche, aber auch sunnitische Politiker und Minister ein ums andere Mal.

Doch Übergabe der Waffen wäre für die Schiitenmiliz gleichbedeutend mit Kapitulation vor dem Feind. Und Kapitulation liegt nicht in der DNA der Hisbollah. Opfertod, Martyrium, Widerstand bis zum letzten Mann, das ist das religiös geprägte Erbgut der Schiitenmiliz.

Christen, Sunniten und Drusen gegen die Hisbollah

Je länger der Krieg dauert, umso deutlicher stellen sich Christen, Sunniten, auch Drusen gegen die Hisbollah. Sie sehen in Israel zwar den Aggressor und Feind. Aber der Hisbollah werfen sie vor, das Land dorthin gebracht zu haben, wo es jetzt ist: im Abgrund.

"Die Zerstörungen, die Luftangriffe, die ständigen Drohnen über Beirut, dieser permanente Ausnahmezustand macht die Leute hier fertig", sagt Heiko Wimmen von der International Crisis Group in Beirut. Er geht davon aus, dass ein großer Teil der Bevölkerung - "wenigstens die Hälfte" - der Meinung sei, die Hisbollah habe nicht das Recht, den Libanon in einen solchen Konflikt hineinzuziehen.

2.800 Tote und 12.000 Verletzte zählt inzwischen das Gesundheitsministerium in Beirut. Dutzende Dörfer im Südlibanon sind zerstört, fast jeden Tag wird Südbeirut bombardiert, seit einigen Tagen auch die UNESCO-Stadt Baalbek mit ihrer antiken Tempelanlage. "Libanon ist kein Land mehr, es liegt in Trümmern", sagt die libanesische Autorin und Verlegerin Rascha al Amir. "Wir wissen, wer das letztendlich zu verantworten hat: der Iran und seine Handlanger von der Hisbollah."