Brexit-Verhandlungen in Brüssel

Beginn der Brexit-Verhandlungen Aufbruch ins Ungewisse

Stand: 19.06.2017 11:44 Uhr

In Brüssel sind erstmals die Brexit-Unterhändler zusammengekommen, um über den Austritt der Briten aus der EU zu sprechen. Es ist der Startschuss für einen Verhandlungsmarathon mit vielen Stolpersteinen.

Es ist in jeder Hinsicht ein Aufbruch ins Ungewisse, für beide Teams am Verhandlungstisch. Dass ein Land die Europäische Union verlässt, hat es seit Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vor sechs Jahrzehnten nicht gegeben. Und der berühmte Artikel 50, die rechtliche Basis für den Austritt, schreibt nur einen groben Rahmen für die Trennung vor. Ob "harter" oder "sanfter" Brexit - fest steht: Spätestens Ende März 2019 wird Großbritannien kein EU-Mitglied mehr sein.

"Wir dringen in unkartierte Gewässer vor und die Uhr tickt", mahnt Michel Barnier, Chefunterhändler der EU-Kommission, der die Gespräche mit Brexit-Minister David Davis führen wird. Der erfahrene Ex-Kommissar und Ex-Diplomat hat sich und sein Team in den vergangenen Monaten akribisch vorbereitet.

Für den 66-jährigen Franzosen dürfte es die anspruchsvollste Aufgabe seiner langen Laufbahn sein. Allein schon wegen des Zeitdrucks: Bis Herbst 2018, also schon in gut 16 Monaten, will man mit den Briten in den wesentlichen Punkten handelseinig sein, sonst geraten die vorgesehenen Fristen zur Ratifizierung einer Vereinbarung durch den Rat und die Parlamente in Gefahr.

Michel Barnier auf einer Pressekonferenz in Brüssel.

Der Franzose Michel Barnier verhandelt für die EU.

"Niemals naiv"

Auch wenn der knappe Ausgang der Unterhauswahlen den Prozess nun weiter verzögert hat und die britische Position noch nebulöser erscheint - Barnier gibt sich zuversichtlich und selbstbewusst: "Wir haben vor, diese schwierigen Verhandlungen erfolgreich zu führen. Wir werden fest sein, freundschaftlich, aber niemals naiv."

Nach den Plänen der EU soll es in der ersten Verhandlungsphase, also bis Ende des Jahres, ausschließlich um die Bedingungen der "Scheidung" gehen und noch nicht, wie es die Briten wünschen, um die künftigen Beziehungen. Hier stehen aus Brüsseler Sicht zunächst die Rechte der rund drei Millionen EU-Bürger im Mittelpunkt, die derzeit in Großbritannien leben und arbeiten; sowie die der etwa eine Million Briten auf dem Kontinent. Eine großzügige Lösung, also ein Festhalten am Status Quo, überwacht vom Europäischen Gerichtshof, hat für Chef-Unterhändler Barnier Vorrang: "Welche Rechte wollen wir schützen? Nicht nur die freie Wahl des Wohnsitzes. Auch alles, was mit dem Zugang zum Arbeitsmarkt zusammenhängt, mit der Bildung, dem Gesundheitswesen, mit der Anerkennung von Schul- und Berufsabschlüssen."


Dass London einer solchen Garantie bedingungslos zustimmt, ist trotz des gestiegenen Drucks auf Premierministerin Theresa May nicht zu erwarten. Immerhin scheint ein Kompromiss denkbar. Auch, was eine humane und pragmatische Grenzregelung für das geteilte Irland angeht. Es ist der zweite heikle Punkt, den die beiden Task Forces zunächst klären müssen.

Streit um die Schlussrechnung

Für massive Konflikte sorgen dürfte schließlich die "Brexit-Bill", die milliardenschwere Schlussrechnung, die sämtliche finanziellen Verpflichtungen des Ex-Mitglieds Großbritannien auflistet. Barnier will sie nicht als "Bestrafung" oder "Austrittssteuer" verstanden wissen. 40 Jahre lang, so der Franzose, habe man gemeinsam Projekte beschlossen und sie gemeinsam finanziert. Nun gehe es schlicht darum, die Konten zu begleichen.

Wirklich ans Eingemachte, davon sind Beobachter überzeugt, wird es beim ersten Treffen der beiden Verhandlungsteams noch nicht gehen. Vielmehr will vor allem die britische Seite zeigen, dass man trotz innenpolitischer Unwägbarkeiten handlungsfähig ist und den Brexit nun endlich in Angriff nimmt.

Ansonsten dürfte man sich bemühen, eine freundschaftliche und konstruktive Gesprächsatmosphäre herzustellen. Nicht aggressiv, sondern mit kühlem Kopf und lösungsorientiert, wolle die EU vorgehen, so Barnier. Und auch Ratspräsident Donald Tusk setzt auf Schadensbegrenzung: Wenn schon eine Umkehr der Briten unrealistisch erscheint, wolle man wenigstens ein Scheitern der Gespräche vermeiden. Der Brexit an sich sei für alle Betroffenen schließlich Strafe genug.

Holger Romann, Holger Romann, ARD Brüssel, 18.06.2017 23:48 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete NDR Info am 19. Juni 2017 um 06:38 Uhr