Boeing 737 Max 8 Sicherheitsrisiko Kontrollsystem?
Boeings 737 Max unterscheidet sich von den Vorgängern auch durch das System "MCAS". Beim Lion-Air-Absturz im Oktober könnte es eine entscheidende Rolle gespielt haben. Luftfahrtjournalist Spaeth über ein Sicherheitssystem mit Risiken.
Bis Ende vergangenen Jahres war das System mit dem sperrigen Namen "Maneuvering Characteristics Augmentation System" ("MCAS") selbst vielen Luftfahrtexperten unbekannt. Das änderte sich schlagartig nach dem 29. Oktober, als eine erst zwei Monate alte Boeing 737 Max 8 nur wenige Minuten nach dem Start in Jakarta abstürzte - 189 Menschen starben.
Seither wird über die Sicherheit und Fehleranfälligkeit des Kontrollsystems diskutiert, das für die 737-Max-Serie entwickelt wurde. Einen endgültigen Untersuchungsbericht zu dem Unglück gibt es noch nicht, aber Ermittler vermuten, dass das System eine entscheidende Rolle gespielt haben könnte. Boeing hat für die kommenden Wochen ein Software-Update angekündigt. Ob der Absturz der Ethiopian-Airlines-Maschine etwas mit dem System zu tun hat, ist nicht bekannt. Luftfahrtjournalist Andreas Spaeth spricht im Interview über Funktion und Risiken.
tagesschau.de: Warum hat Boeing das "MCAS" für die Max-Serie überhaupt eingeführt?
Andreas Spaeth: Dazu muss man etwas ausholen: Die Boeing 737 gibt es schon seit 50 Jahren, die Max-Serie kam aber erst vor zwei Jahren heraus. Hintergrund ist, dass die Airlines ein moderneres, sparsameres Flugzeug wollten. Ein völlig neues Flugzeug aber hätte sich für Boeing nicht gelohnt, denn dafür hätten zweistellige Milliardenbeträge investiert werden müssen. Also hat man die alte 737 umkonstruiert - und das scheint sich nun zu rächen.
Andreas Spaeth ist Luftfahrtjournalist für deutsche und internationale Medien und publiziert zu Themen der zivilen Passagierluftfahrt.
tagesschau.de: Welches Problem gab es dabei?
Spaeth: Es gibt inzwischen eine neue Generation von Triebwerken, sie sind effizienter und haben einen größeren Durchmesser als die alten. Und dafür war die frühere 737 eigentlich nicht geschaffen, weil die Tragflächen ziemlich nahe über dem Boden hängen. Es war also nicht mehr möglich, die Triebwerke wie bisher einfach unter die Tragflächen zu hängen. Man musste bei der Max die Triebwerke viel weiter vorne anbringen, und das hat massive Umkonstruktionen erfordert. So musste etwa das Bugfahrwerk um 20 Zentimeter verlängert werden.
In Folge hat sich auch die gesamte Aerodynamik des Flugzeugs verändert. Ein Flugzeug muss ja in seiner Aerodynamik und seinem Schwerpunkt sehr genau austariert werden, und dafür waren bei der 737 Max Änderungen nötig. Um negative Folgen der veränderten Aerodynamik auszugleichen, wurde das "MCAS" eingebaut.
tagesschau.de: Was soll das System bewirken?
Spaeth: Eine Folge des Umbaus der 737 ist, dass das Flugzeug nun die Tendenz hat, die Nase zu heben. Dann aber kann es unter Umständen zu einem Strömungsabriss kommen, und das ist das Gefährlichste überhaupt - dann kann das Flugzeug nicht mehr fliegen, weil es keinen Auftrieb mehr hat. Genau diesen Strömungsabriss soll das "MCAS" verhindern. Dafür hat das Flugzeug spezielle Sensoren, die erkennen sollen, ob sich die Nase zu stark hebt - und die sind eine der möglichen Fehlerquellen.
Wenn diese Sensoren an den Computer einen zu steilen Anstellwinkel melden, wird das "MCAS" aktiviert und veranlasst den Bordcomputer, automatisch die Nase zu senken. Das wird zum Problem, wenn der Bordcomputer von den Sensoren falsche Daten bekommt. Dann löst er dieses Senkverfahren aus, obwohl das Flugzeug eigentlich ganz regulär in der Luft liegt. Und das heißt wiederum, dass die Maschine schlimmstenfalls in den Sturzflug geht.
tagesschau.de: So könnte es laut einem vorläufigen Ermittlungsbericht bei der abgestürzten Lion-Air-Maschine im Oktober gewesen sein.
Spaeth: Deswegen zeigen die Daten bei Lion Air eben auch dieses schlimme Auf und Ab, als die Piloten gegen die Maschine gekämpft haben. Die Piloten haben versucht, manuell die Nase zu heben, das System hat sie heruntergedrückt. Und die Piloten wussten nicht, wie ihnen geschieht, weil sie nicht wussten, dass dieses System gerade aktiv ist.
tagesschau.de: Wie können die Piloten das System in einem solchen Notfall überwinden?
Spaeth: Sie können zum Beispiel die Landeklappen stärker ausfahren, das hilft schon. Man kann aber auch das ganze System deaktivieren, indem man eine entsprechende Sicherung zieht im Cockpit. Das wussten die Piloten von Lion Air allerdings nicht. Sie wussten nicht, dass sie ein System als Gegner hatten. Das wussten aber - im Fall des Absturzes in Äthiopien - vermutlich die Piloten von Ethiopian Airlines, weil sie ja schon sensibilisiert gewesen sein müssten. Insofern ist es schon mysteriös, was hier passiert sein könnte.
tagesschau.de: Es gab nach dem Absturz im Oktober Vorwürfe von Piloten, sie seien nicht für das neue System geschult worden ...
Spaeth: Ja, ich habe mit vielen Piloten gesprochen, die das unglaublich fanden. Das Problem war, dass Boeing diese Systemveränderungen in der 737 Max im Vergleich zu herkömmlichen 737 den Piloten nicht mitgeteilt hatte und sie auch im Training keine Rolle spielten. Die Piloten in Indonesien wussten offenbar nicht, dass dieses Flugzeug anders reagiert als es die 737 jahrzehntelang getan hat. Boeing wollte dieses Problem offenbar gar nicht diskutieren. Man dachte, man hätte das Problem mit der neuen Software behoben und hat es nicht für nötig erachtet, den Piloten etwas davon zu sagen. Im Training war es bis zu dem Lion-Air-Absturz kein Thema.
Rettungskräfte an der Absturzstelle der Boeing 737 Max 8 in Äthiopien.
tagesschau.de: Bisher ist nicht bekannt, ob auch der Absturz in Äthiopien etwas mit dem "MCAS" zu tun hat. Gibt es Indizien, die dafür oder dagegen sprechen?
Spaeth: Boeing sagt nach wie vor, man habe keine Informationen darüber, dass etwas unsicher sei. Und tatsächlich gibt es noch keine Erkenntnisse darüber, ob das Flugzeug einen Fehler hatte. Bei Lion Air etwa weiß man, dass die Sensoren schon am Tag vor dem Unglück während eines Fluges falsche oder widersprüchliche Werte übermittelt haben. Bei Ethiopian flog das Flugzeug noch am Morgen aus Johannesburg nach Addis Abeba - hier war nichts bekannt über vorherige Probleme. Ich würde eben auch stark vermuten, dass die Ethiopian-Piloten nach dem Lion-Air-Unfall sensibilisiert waren und um das Problem und die Sensoren wussten. Flightradar24 hat schon Flugdaten bereitgestellt. Das sieht leicht irregulär aus, aber man sieht nicht so ein Auf ein Ab, so einen Kampf wie bei Lion Air.
Ein entscheidender Faktor ist aber, dass die Piloten technische Probleme gemeldet haben, sie wollten umkehren. Insofern scheint klar, dass es nicht irgendein anderes Problem wie etwa Vogelschlag war. Der Verdacht liegt schon nahe, dass es auch hier an dem Flugzeug gelegen hat, aber man weiß es eben noch nicht. Und was man noch weniger weiß, ist, ob die Maschine vielleicht den gleichen Fehler hatte wie die von Lion Air.
Das Interview führte Carina Braun, tagesschau.de.