Augenzeugenberichte aus Istanbul "Es herrscht totales Chaos"

Stand: 28.08.2007 04:49 Uhr

Die Anschläge in Istanbul wurden in belebten Stadtteilen verübt und lösten in der Bevölkerung Panik aus. Die enorme Wucht der Explosionen ließ in Nachbargebäuden Scheiben zerbersten und Fußböden vibrieren. Viele Menschen versuchten überstürzt die Innenstadt zu verlassen, die Mobilfunknetze brachen unter der Last der Anrufe zusammen.tagesschau.de sprach mit Augenzeugen, die die Explosionen und das Chaos auf den Straßen miterlebt haben.

"Von den unteren Stockwerken ist nur der Rohbau übrig"

Sebastian Goeser, IBM Deutschland

"Ich bin hier im IBM-Gebäude im Stadtteil Levent, ungefähr 200 Meter von der HSBC-Bank entfernt. Vom HSBC-Gebäude ist auf den ersten 3 Stockwerken nur noch der Rohbau übrig, es ist einfach furchtbar. Die Hauptstraße vor dem Gebäude ist gesperrt, es sind viele Leute auf der Straße - vermutlich Schaulustige. Unmittelbar vor denr Bank stehen Feuerwehrfahrzeuge und Rettungskräfte.

Ich habe am Morgen im Erdgeschoss des IBM-Gebäudes einen Workshop für HSBC-Mitarbeiter abgehalten. Etwa um 11:30 hörten wir eine Detonation, die das Gebäude erzittern ließ. Wir rannten ins Freie weil wir nicht sicher waren, ob unser Gebäude getroffen war. Dabei sah ich in einiger Entfernung eine gewaltige Rauchwolke. Nach vergeblichen Versuchen, mit der HSBC-Bank Kontakt aufzunehmen gingen wir ins 15. Stockwerk (wo ich auch jetzt bin). Als wir am Fenster standen sahen wir im Stadtteil Taksim die zweite Explosion, die noch fürchterlicher gewesen sein muss. Später erfuhr ich, dass das britische Konsulat betroffen war. Gottseidank bin ich von den Anschlägen nur mittelbar betroffen. Es war aber eher Zufall, dass wir diesen Workshop nicht im HSBC-Gebäude gemacht haben."

"Die Situation ist völlig neu und unbegreifbar"

Ayca Kahraman, "Türkische Allgemeine"

"Die Redaktion liegt fünf Gehminuten entfernt von der HSBC-Bank. Wir haben ein lautes Geräusch gehört, dann hat der Fußboden gebebt. Zunächst dachten wir, es sei ein Erdbeben - aber als wir den Rauch gesehen haben und die Sirenen der Krankenwagen heulten, war uns klar, dass es einen neuen Anschlag gab. Der Verkehr ist sofort zusammengebrochen, hier läuft nichts mehr, die Straßen sind komplett verstopft. Ich glaube, dass viele panisch versucht haben, hier weg zu kommen. Sie können auch niemand über Handy erreichen - die Mobilfunknetze sind zusammengebrochen, weil viele Menschen versuchen, Verwandte oder Freunde anzurufen. Es herrscht totales Chaos.

Für die Menschen in Istanbul ist die Situation völlig neu und überraschend, Anschläge in dieser Größe kannten wir bis zum vergangenen Samstag nicht. Außenminister Gül spricht inzwischen offiziell von einer Terrorwelle und ich fürchte, dass es so ist.  Ich werde auf jeden Fall in nächster Zeit einige sehr belebte Orte meiden. Ich habe aber auch das Gefühl, dass die Menschen in Istanbul die neue Bedrohung, in der wir hier stecken, noch gar nicht begriffen haben." 

"Wir haben im Keller eines Cafes Zuflucht gesucht"

Rainer Sollich, DW-World Istanbul

"Ich stehe gerade in Istanbul im Stadteil Taksim, ungefähr 50 Meter vom englischen Konsulat entfernt, wo die Bombe hochgegangen ist. Ich selbst habe mich tierisch erschrocken, weil ich in der Nähe saß in einem Café und gerade mit einem türkischen Journalisten-Kollegen darüber gesprochen, dass es offenbar neue Anschläge in Istanbul gegeben hat als plötzlich die Scheiben detonierten. Alle Leute im Lokal sprangen auf und wir haben in größter Panik erst einmal Zuflucht im Keller gesucht.

Nach einer Weile sind wir dann rausgegegangen. Das, was wir hier gesehen haben, so etwas habe ich wirklich noch nie gesehen. Es wurden Leute über die Straße getragen - ich weiß gar nicht, ob sie tot waren oder verletzt - blutüberströmte Leichen und große Panik. An allen Gebäuden, die hier liegen, sind die Scheiben heraus gebrochen. Es gab einen Riesenkrach, überall heulen Polizei-Sirenen auf, die ganze Stadt scheint in Aufruhr zu sein und man hat das Gefühl, dass - wer auch immer es ist, ob Al-Kaida oder eine türkische Terrorgruppe - es eine politische Kraft hier geben muss, die ganz gezielt versucht, das Land mit Bombenattentaten zu destabilisieren."