Interview mit Baha Güngör "Gefahr für die Regierung Erdogan"
Zum zweiten Mal innerhalb von nur einer Woche ist Istanbul Ziel von mehreren Bombenanschlägen geworden. Wer könnte hinter den Attentaten stecken und welche Konsequenzen muss die Regierung Erdogan aus der Terrorwelle ziehen? tagesschau.de sprach darüber mit Baha Güngör, Leiter der türkischen Redaktion der Deutschen Welle.
tagesschau.de: Wie erklären Sie sich die Serie von Attentaten in Istanbul?
Baha Güngör: Die Türkei hat eine funktionierende Demokratie und eine überwiegend islamische Bevölkerung. Diese Synthese war den islamischen und anderen Dikaturen immer ein Dorn im Auge. Die Türkei hat den Beitritt zur Europäischen Union fest ins Visier gefasst, zumindest aber die Heranführung an die Werte und Normen der europäischen Zivilsation. Um dieses Ziel zu erreichen, muss die Türkei natürlich mit den Europäern eng kooperieren. Also gibt es immer wieder Versuche, die von strikter Trennung von Religion und Staatsführung geprägte politische Ordnung zu destabilisieren. Im übrigen ist die Resonanz in Europa und Amerika auf die letzten Anschläge in Djerba oder Saudi-Arabien hinter der Resonanz auf die Anschläge vom 11. Spetember 2001 zurückgeblieben. Das erhoffen die Attentäter sich jetzt offenbar von Anschlägen in der Türkei.
tagesschau.de: Andererseits regiert in der Türkei eine – wenn auch gemäßigt – islamische Partei. Wieso greift man gerade sie an?
Güngör: Die Regierung von Recip Tayyip Erdogan hat sich eine Synthese von Religion und westlicher Lebensart auf die Fahnen geschrieben. Sie hat aber auch das Ziel verfolgt, die Türkei aus internationalen Konflikten möglichst heraus zu halten und zugleich als Friedensbewahrer aufzutreten. Das ist etwa in Afghanistan gelungen, und auch im Irak-Konflikt hat die Türkei einen Mittelweg zwischen den USA und den Europäern eingeschlagen. Erdogans Partei steht nun vor der Gefahr, dass die "Falken" im nationalistischen Lager die Regierung umso mehr angreifen und sie beschuldigen werden, nicht genug gegen die islamistischen Terroristen getan zu haben.
tagesschau.de: Die Regierung steckt also in einer Zwickmühle. Welche Reaktionsmöglichkeiten bleiben ihr?
Güngör: Die Regierung vermutet ja, dass das Terrornetzwerk Al-Kaida mit Hilfe von im Ausland ausgebildeten türkischen Tätern hinter den Anschlägen steckt. Die Regierung kann im Moment nicht viel mehr machen als Farbe zu bekennen. Sie muss sich gegen den Terrorismus stellen und die Sicherheitskräfte unterstützen. Man darf in diesem Zusammenhang aber eines nicht vergessen: Die Türkei hat einen 15-jährigen Krieg gegen die PKK hinter sich und versucht gerade, zaghaft zu demokratischen Normen und zur Beachtung der Menschenrechte zurückzukehren. Ich hoffe, dass die Sicherheitskräfte nun nicht über die Stränge schlagen und bei der Terroristensuche nicht wieder ganze Bevölkerungsgruppen ins Visier nehmen.
tagesschau.de: Riskiert der Premier aber nicht auch, im Kampf gegen militante islamische Gruppen den Rückhalt in seiner Wählerschaft zu verlieren?
Güngör: Diese Gefahr besteht. Es gibt natürlich eine verknöcherte Basis, die aber nicht in Erdogans Partei, sondern außerhalb des Parlaments organisiert ist. Erdogan muss fürchten, dass die gemäßigten, nicht-islamistisch orientierten Protest-Wähler wieder abwandern und auch die religiösen Wähler sich abwenden. Diese Regierung ist insofern gefährdet – zumal sich die Anschläge auf die Börse und die Devisenpreise auswirken und auch Einbußen im Tourismus zu befürchten sind.
tagesschau.de: Halten sie es für möglich, dass die türkische Rgierung ihre internationale Ausrichtung überdenkt?
Güngör: Das glaube ich nicht. Die einzige Rettung für diese Regierung ist der direkte Anschluss an die EU und ihre Werte. Und Europa wäre gut beraten, die Türkei jetzt mehr als sonst zu unterstützen – ohne natürlich alles zu akzeptieren. Was Demokratie, Menschenrechte, Minderheitenschutz und wirtschaftliche Entwicklung betrifft, muss das Land sein Soll erfüllen, ist dabei aber ein gutes Stück vorangekommen. Man muss nun einen Weg finden, die Türkei noch schneller, noch intensiver an die europäischen Werte heranzuführen.
Die Fragen stellte Eckart Aretz, tagesschau.de