Interview

Interview zu Moskauer Geiseldrama "Die Gewalt wächst auf beiden Seiten"

Stand: 28.08.2007 09:17 Uhr

Der russische Präsident Putin plädiert in jüngster Zeit für eine politische Lösung des Tschetschenien-Konflikts. Der Russland-Experte Dr. Uwe Halbach von der Berliner "Stiftung Wissenschaft und Politik" sieht jedoch im Gespräch mit tagesschau.de in den Vorschlägen des Präsidenten keinen tragfähigen Ansatz zur Befriedung der Kaukasusrepublik. tagesschau.de sprach mit ihm am ersten Tag des Moskauer Geiseldramas (24.10.2002) über Krieg und Gewalt in Tschetschenien.

tagesschau.de: Der Krieg in Tschetschenien ist hierzulande weitgehend in Vergessenheit geraten – auf welchem Niveau wird er mittlerweile geführt?

Uwe Halbach: Auf dem Niveau intensivierter Kampftätigkeiten. Nach dem 11. September 2001 ist der Krieg ja tatsächlich etwas in Vergessenheit geraten, obwohl die Gewalt nicht abgenommen, sondern gerade in den letzten Monaten zugenommen hat - und zwar auf beiden Seiten. Die russischen Truppen haben nach dem 11. September bis heute eine "Säuberungsaktion" nach der anderen durchgeführt.

tagesschau.de: Was ist darunter zu verstehen?

Halbach: "Gesäubert" heißt nicht anderes als willkürliche Verhaftungen und Entführungen. Es bedeutet auch, dass man eine Siedlung unter Druck setzt, die irgendwie in Verdacht geraten ist, mit tschetschenischen Kombattanten in Verbindung zu stehen. Es gibt Siedlungen, die zwanzig- bis dreißig Mal "gesäubert" wurden. Aber auf der Gegenseite ist die Gewalt auch eskaliert. Ich erinnere daran, dass noch vor drei Wochen eine Polizeistation in die Luft gesprengt wurde - 23 Menschen starben. Im August wurde ein russischer Kampfhubschrauber abgeschossen - 116 Tote. Die Kampfaktivitäten haben sich also ganz erheblich erhöht, obwohl der Krieg in Vergessenheit geraten ist.

tagesschau.de: War es falsch, dass der Westen seit dem 11.September die Tschetschenienfrage hintenan gestellt hat?

Halbach: Es gab ja gerade von Seiten des Europarates und anderer europäischer Institutionen weiterhin sehr deutliche Ermahnungen. Aber insgesamt kann man sagen, dass der Druck auf Russland in Sachen Tschetschenien schon vor dem 11. September schon nicht stark war. Nach dem 11. September ist er dann einer besonderen Konjunktur zum Opfer gefallen, weil Russland sich der internationalen Allianz gegen Terrorismus angeschlossen hat.

tagesschau.de: Aber wird man mit diesem Blickwinkel dem Problem in seiner Gänze gerecht?

Halbach: Selbst, wenn man sich auf die russische Vorgabe einlässt, die tschetschenischen Kombattanten seien Terroristen, ist eines ganz deutlich. Das Vorgehen der russischen Seite in Tschetschenien, gegen den sogenannten Terrorismus hat selber so viel terroristische Qualität, dass man sagen kann: Das ist ein Paradebeispiel dafür, wie Kampf gegen Terrorismus unter keinen Umständen aussehen darf. Das ist ein Kampf, der mit Flammenwerfern geführt wird, mit Aerosolbomben, mit Geräten, die einfach im Kampf gegen den Terrorismus nicht zum Einsatz kommen dürfen.

tagesschau.de: Es heißt, dass auf beiden Seiten die Grenze zwischen Militär und Kriminalität oftmals fließend ist?

Halbach: Das ist in der Tat auf beiden Seiten der Fall. Auf der tschetschenischen Seite gibt es einen Grenzbereich zwischen Freiheitskampf, Banditentum und Warlord-Kultur. Man muss es aber auch von der Gegenseite sagen. Auch Angehörige der russischen Armee sind in ungeheure Korruptionsaffären in Tschetschenien verwickelt. Es gibt also in der Armee Kräfte, die ein ganz materielles Interesse an der Aufrechterhaltung der Situation haben.

tagesschau.de: Die Geiselnehmer in Moskau haben den sofortigen Abzug der russischen Truppen aus Tschetschenien verlangt. Kann die russische Regierung eine solche Forderung überhaupt erfüllen?

Halbach: Nein! Schon 1995 bei der Geiselnahme im Krankenhaus von Budjonnowsk mit 1500 Geiseln wurde die Beendigung des Krieges und der Abzug der russischen Truppen in Aussicht gestellt. Wie wir wissen, ist der Krieg damals noch länger als ein Jahr weiter gegangen.

tagesschau.de: Gibt es denn auf tschetschenischer Seite überhaupt noch einen Ansprechpartner für Verhandlungen?

Halbach: Die Internationale Gemeinschaft hat Putin immer wieder empfohlen, mit dem ehemaligen gewählten Präsidenten Tschetscheniens Aslan Maschadow zu verhandeln. Das Problem ist nur, dass Maschadow in den letzten Wochen immer enger mit jenen Kräften zusammengerückt ist, die auf westlicher Seite als Terroristen bezeichnet werden - nämlich mit dem radikal-islamistischen Spektrum des tschetschenischen Widerstandes.

tagesschau.de: Militärisch ist die Situation offenbar nicht zu lösen, und die russische Regierung spricht von der "Tschetschenisierung" des Konflikts. Was meint sie damit?

Halbach: Das heißt vor allem, dass man das "Ordnung schaffen" in Tschetschenien den Tschetschenen überlassen will, also tschetschenischen Polizisten. Aber dieses Konzept funktioniert ebenso wenig wie seinerzeit die Vietnamisierung des Vietnamkrieges.

tagesschau.de: Warum funktioniert sie nicht?

Halbach: Die Fronten sind da durchmischt. Man kann sich auch nicht auf die tschetschenischen Kräfte verlassen, die man in die Sicherheitskräfte und den Verwaltungsapparate eingesetzt hat. Auch wenn es exotisch klingt: Die Blutrache ist immer noch eine Institution in Tschetschenien. Die tschetschenischen Rebellen rächen sich nun gerade an den tschetschenischen Kadern, die dort den Eindruck erwecken, für Moskau zu arbeiten. Deswegen funktioniert die Tschetschenisierung einfach nicht.

Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de