Interview mit Elias Bierdel "Den Totentanz stoppen"

Stand: 29.08.2007 00:54 Uhr

Stand: 23. Juli 2003

Liberias Haupstadt Monrovia versinkt seit Wochen in Anarchie und Chaos. Die öffentliche Ordnung hat sich aufgelöst. Hunderte Zivilisten wurden ermordet. Wie schlimm das menschliche Leid in Monrovia ist, darüber berichten Reporter und internationale Helfer, die trotz des hohen Risikos in die Region reisen. tagesschau.de befragte dazu den Chef der Hilfsorganisation Cap Anamur, Elias Bierdel. Er hat gerade eine Ladung Hilfsgüter vor Ort abgeliefert.

tagesschau.de: Sie waren am Wochenende in Monrovia, wie war die Lage dort?

Bierdel: Wir haben Mitte der Woche noch ein Schiff mit Hilfsgütern von Sierra Leone aus nach Monrovia gebracht. In der Stadt herrschten entsetzliche Zustände: Hunderttausende Flüchtlinge suchten Schutz in den öffentlichen Gebäuden - allein in den Katakomben unter der Tribüne des Stadions hausten über 40.000 Menschen - teilweise saßen aber auch die Menschen unter freiem Himmel.

tagesschau.de: Wie ist die Versorgungslage? Gibt es ausreichend Trinkwasser?   

Bierdel: Wir wurden überall um Brot angebettelt. Eine Flasche Wasser löste am Hafen fast eine Massenschlägerei aus. Nachts kommt es (Monrovia ist seit Jahren ohne Strom!) zu Überfällen aller Art: Plünderungen, Mord, Raub und Vergewaltigungen. Die Situation ist verzweifelt - erst recht, seit die Rebellen erneut in die Hauptstadt eingedrungen sind.

tagesschau.de: Wer bekämpft dort eigentlich wen?

Bierdel: Es sind im Wesentlichen zwei Rebellen-Gruppen, LURD und MODEL, deren vordringliches Ziel es ist, den gegenwärtigen Präsidenten Charles Taylor zu stürzen. Taylor selbst ist vor Jahren als Rebellenführer mit 160 Mann aus dem Nachbarland Elfenbeinküste in Liberia eingefallen und hat seinen Vorgänger massakrieren lassen. Seine "Regierungstruppen" bestehen - ebenso wie die meisten Rebellen-Verbände - zum Großteil aus Banden schwerstbewaffneter Jugendlicher, die unter Drogen gesetzt wurden. Beide Seiten attackieren mit unvorstellbarer Brutalität die Zivilbevölkerung.

tageschau.de: Was wissen Sie und Ihre Kollegen von den internationalen Hilfsorganisationen über die Lage außerhalb Monrovias?

Bierdel: Leider sehr wenig. Weite Teile des Landes sind wegen der andauernden Kämpfe seit langer Zeit auch für westliche Helfer nicht mehr zugänglich. Die Bevölkerung der Provinzen im Norden und Osten des Landes ist überwiegend geflohen - diejenigen, die zurückbleiben mussten, sind den Übergriffen der Kämpfer ausgesetzt. Eine Versorgung der Menschen dort ist schon seit Monaten nicht mehr möglich.

tagesschau.de: Wie sehr sind die Menschen in Liberia und besonders in der Hauptstadt Monrovia auf Hilfe von außen angewiesen?

Bierdel: Derzeit zu 100 Prozent. Es ist ja in diesem ausgeplünderten, verwüsteten Land auch das normale Geschäftsleben völlig zum Erliegen gekommen. Auch Handelsschiffe meiden Monrovia seit Monaten, weil es dort immer wieder zu Kämpfen und Piratenüberfällen gekommen ist. Weit mehr als die Hälfte der Bevölkerung befindet sich - zum Teil seit Jahren - auf der Flucht. Diese Menschen sind nicht in der Lage, ihr Überleben aus eigener Kraft zu sichern.

tagesschau.de: Wie kann den Menschen vor Ort am besten geholfen werden?

Bierdel: Zunächst muss der entfesselte Totentanz, der in Liberia tobt, sofort gestoppt werden. Das geht - leider - nur mit einer sofortigen Militär-Intervention. Die Erfahrung aus dem Nachbarland Sierra Leone (wo bis vor wenigen Jahren ebenfalls ein unvorstellbar grausamer Bürgerkrieg herrschte) zeigt, daß das funktionieren kann: In Sierra Leone waren es die Briten, die mit einer relativ kleinen Einheit von Elite-Soldaten das Morden beenden konnten.

In Liberia müssen das - wegen der historischen Verbindung zwischen den USA und dem von freigelassenen, ehemaligen Sklaven gegründeten Land - die Amerikaner machen. Sie zögern aber noch. Unterdessen sterben die Menschen.

tagesschau.de: Sie waren per Schiff unterwegs, gab es sonst keinen Weg für Hilfsgüter in die Stadt?

Bierdel: Theoretisch ist es auch möglich, Güter nach Monrovia einzufliegen. Das ist allerdings extrem teuer und keineswegs sicherer. Ein Schiff kann ein Vielfaches der Menge transportieren - und es kann auf See warten, bis die Lage an Land das Entladen ermöglicht. Unter den gegenwärtigen Bedingungen heftiger Kämpfe im gesamten Stadtgebiet kann davon keine Rede sein. Es geht ja nicht nur darum, Güter in die Stadt zu bringen, sondern vor allem: Dafür zu sorgen, dass sie auch die Bedürftigen erreichen.

Lesen Sie im zweiten Teil des Interviews, welche Rolle die Nachbarstaaten Liberias in dem Konflikt spielen - und wer die Lage stabilisieren könnte.