Die wichtigsten Fragen und Antworten Was kommt mit dem Ratsvorsitz auf Deutschland zu?
Seit dem 1. Januar 2007 ist Deutschland EU-Ratsvorsitzer. Was bedeutet das? Welche Themen will die Bundesregierung anpacken? Welche Herausforderungen sehen Experten auf sie zukommen? Und was lässt sich in sechs Monaten Ratspräsidentschaft überhaupt erreichen? Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Was hat sich die Bundesregierung vorgenommen?
Eine ganze Menge. Neben einem Neuanlauf zur Europäischen Verfassung sind die vom Bundeskabinett im November 2006 beschlossenen Ziele bereits bekannt: Klimaschutz und Energiepolitik, verbesserte Zusammenarbeit von Polizei und Justiz - auch bei der Überwachung des Internets- und neue Strategien gegen illegale Einwanderung, Wachstum und Entbürokratisierung. Außerdem plant die Bundesregierung eine "Berliner Erklärung“ im März: Zum 50. Jahrestag der Römischen Verträge, der Geburtsstunde der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) - eine Vorläuferin der EU -, sollen die gemeinsamen Werte und Ziele der Union neu formuliert und den Bürgern näher gebracht werden. Beschäftigen werden sie auch die großen internationalen Fragen - der Nahe Osten und Irak.
1. Januar 2007: EU-Beitritt Bulgariens und Rumäniens, Deutschland übernimmt Vorsitz
9. Januar 2007: Gemeinsame Sitzung des Bundeskabinetts und der EU-Kommission in Berlin
17. Januar 2007: Rede der Bundeskanzlerin im EU-Parlament in Straßburg
8./9. März 2007: Erster EU-Gipfel unter deutschem Vorsitz in Brüssel
14. März 2007: Zwischenbericht der Bundeskanzlerin im EU-Parlament
24./25. März 2007: 50 Jahre Römische Verträge - informeller Gipfel in Berlin
April 2007: EU-USA-Gipfel
6.-8. Juni: G8-Gipfel in Heiligendamm
21./22. Juni: EU-Gipfel in Brüssel
1. Juli 2007: Portugal übernimmt Ratspräsidentschaft
Was ist der EU-Ratsvorsitz überhaupt?
Die Rolle des Ratspräsidenten oder Ratsvorsitzenden übernimmt abwechselnd alle sechs Monate einer der Mitgliedsstaaten. Das Land ist in diesem Zeitraum für die Vorbereitung der Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs (Europäischer Rat) und der regelmäßigen Runden der jeweiligen Fachminister von Agrar bis Verteidigung (EU-Ministerrat) zuständig. Diese Gremien treffen als Vertretungen der Mitgliedsländer die wichtigsten Entscheidungen, auch wenn EU-Kommission und Europäisches Parlament ein Wörtchen mitzureden haben.
Außerdem ist die jeweilige Ratspräsidentschaft - als Teil der EU-Troika - für die Vertretung der Europäischen Union auf internationaler Ebene zuständig, zum Beispiel bei Verhandlungen mit anderen Ländern oder in internationalen Krisen.
Welche Macht hat die Ratspräsidentschaft?
Das Land, das den Vorsitz innehat, ist stets nur "Erster unter Gleichen“: Es kann aber Themen auf die politische Agenda setzen und durch die Vorbereitung der Ministertreffen Entscheidungen prägen. Wenn es bei Verhandlungen hart auf hart kommt, kann der Vorsitz als Vermittler und Wegbereiter eine entscheidende Rolle spielen - wie bei den berühmten Einzelgesprächen im "Beichtstuhl“.
Was kann Deutschland erreichen?
"Die Erwartungen sind groß“, meint Europaexperte Woyke: "Auch an die Bundeskanzlerin: Angela Merkel ist mit einem Erfolg bei den Verhandlungen über die EU-Finanzen ins Amt gestartet." Ein "historischer Knotenpunkt“ wie etwa seinerzeit die EU-Osterweiterung, an dem sich die deutsche Ratspräsidentschaft profilieren kann, sei aber nicht abzusehen, sagt sein Kollege Wessels. Es bleiben als Messlatte also die selbstgesteckten Ziele, wenn diese nicht plötzlich von neuen internationalen Krisen überlagert werden: "Die von Deutschland genannten Politikfelder - gerade die Energiepolitik- sind Themen, die für alle Mitgliedsstaaten von nachhaltigem Interesse sind. Da kann man etwas bewegen“, erwartet der Politikwissenschaftler. Sein Kollege Woyke sieht vor allem Gestaltungsmöglichkeiten in der Umweltpolitik und beim Klimaschutz, weil Deutschland zeitgleich den Vorsitz bei den G8 innehabe.
Reichen sechs Monate aus?
Das ist die Frage. "Man muss sich immer Ziele setzen, sonst kann man ja nirgendwo hinsteuern. Und jede Präsidentschaft versucht ein paar Akzente zu setzen - man darf nur nicht zuviel davon erwarten“, sagt der Kölner Politikwissenschaftler Wolfgang Wessels. In vielen EU-Staaten finden bis zum Sommer 2007 Wahlen statt - darunter im wichtigen Mitgliedsland Frankreich. In Großbritannien übergibt Tony Blair die Amtsgeschäft an seinen Nachfolger Gordon Brown. Das lähmt lange Zeit vieles im politischen Betrieb.
Andererseits plant die Bundesregierung ein gemeinsames Arbeitsprogramm mit den beiden nachfolgenden Präsidentschaften Portugal und Slowenien, um Kontinuität im Vorsitz zu gewährleisten. „Das könnte vielversprechend sein“, urteilt Wichard Woyke, Politikwissenschaftler in Münster. Das Modell ist eine Premiere in der EU - und nahe an den 18-monatigen Teampräsidentschaften, wie sie die EU-Verfassung vorsieht.
Wie geht es mit der Europäischen Verfassung weiter?
Die Bundesregierung will für die EU nach wie vor ein "grundlegendes Dokument, das klar und nachvollziehbar regelt, wie sie verfasst ist". Der Politikwissenschaftler Wessels nennt diese Formulierung ein "Eiertanz". Sie lasse offen, ob es sich um den zwar in den Niederlanden und Frankreich abgelehnten, aber von vielen anderen Mitgliedstaaten ratifizierten Vertrag handele – oder um eine neues Dokument.
Viele Beobachter erwarten, dass die Deutschen Bewegung in die Verfassungsfrage bringen - trotz des engen Zeitfensters. Nach der Wahl in Frankreich und vor dem Gipfel im Juni will die Bundesregierung ihre Vorschläge vorlegen - dann ist die deutsche Ratspräsidentschaft aber schon fast wieder vorbei.
Wie steht es um die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei?
Die Beitrittsverhandlungen sollen nach dem Willen der EU zunächst teilweise ausgesetzt bleiben und zwar in acht von 35 Themenbereichen. Hintergrund ist die Forderung der EU, die Türkei müsse ihre Häfen und Flughäfen für das Mitglied Zypern öffnen. Eine entsprechende Einigung zwischen der Türkei und Zypern war wegen des Konflikts um den türkischen Norden der Insel gescheitert. Was die langfristige Perspektive eines EU-Beitritts der Türkei angeht, ist Bundeskanzlerin Merkel in einer Zwickmühle. Sie hätte statt eines Vollmitglieds Türkei lieber nur eine "privilegierte Partnerschaft“, während Koalitionspartner SPD sich für den Beitritt ausspricht. Eine Entscheidung hierzu ist jedoch während der Zeit des Ratsvorsitzes nicht notwendig, die Beratungen und Verhandlungen werden sich voraussichtlich noch Jahre hinziehen.
Wie oft hat Deutschland den Ratsvorsitz inne?
Die letzte Ratspräsidentschaft war im ersten Halbjahr 1999. Da die EU ab 2007 zwei weitere Mitgliedstaaten hat, wäre Deutschland erst im zweiten Halbjahr 2020 wieder Vorsitzender - wenn sich bis dahin die Regelungen nicht verändern.
Von Fiete Stegers, tagesschau.de