Interview "Scharon muss den Weg aus der Sackgasse weisen"

Stand: 27.08.2007 05:27 Uhr

Über die Zeit nach Arafat sprach tagesschau.de wenige Tage vor dem Tod des Palästinenser-Präsidenten mit Helga Baumgarten, Professorin für Politologie an der Universität Birzeit im Westjordanland. Ihrer Ansicht nach wird Israel durch Arafats Tod vor ebenso große Probleme gestellt wie die Palästinenser.

tagesschau.de: Frau Baumgarten, es gibt ja einige Spekulationen über den Zustand Jassir Arafats. Von außen erscheint es so, als ob Israel es sehr eilig hätte, Arafat für tot zu erklären, während die Palästinenser diese Nachricht anscheinend so lange wie möglich hinauszögern möchten. Warum ist das so?

Helga Baumgarten: Für die jetzige israelische Regierung ist Arafat sicher die Verkörperung des Bösen und der Todfeind schlechthin. Deswegen hat der israelische Ministerpräsident Ariel Scharon keinerlei Bereitschaft gezeigt, mit ihm zu verhandeln. Gestern gab es schon einige erschreckende Szenen; rechtsradikale Israelis veranstalteten an zentralen Stellen in Jerusalem ein wahres Fest, um den Tod Arafats zu feiern.

Auf der palästinensischen Seite steht man mit der Möglichkeit von Arafats Tod am Ende einer historischen Ära. Arafat war der Begründer des modernen palästinensischen Nationalismus und der palästinensischen Nationalbewegung. Er hat gleichzeitig aber auch die historische Leistung vollbracht, die Wende hin zu politischen Verhandlungen mit der Akzeptierung der Zwei-Staaten-Lösung zu vollziehen. Er ist in der Durchsetzung dieses Ziels gescheitert, und das ist natürlich für jede Nation eine historische Katastrophe.

tagesschau.de: Wenn Arafat nun stirbt, wie geht es dann erst mal politisch in der palästinensischen Führung weiter?

Baumgarten: Ich möchte auf einen Punkt verweisen, der oft aus europäischer und amerikanischer Sicht übersehen wird: Arafat war zwar der uneingeschränkt anerkannte und gewählte palästinensische Präsident, aber er war es auch, in dessen politischer Ära ganz wichtige Institutionen aufgebaut worden sind. Da ist zum einen die PLO, also die palästinensische Befreiungsorganisation, die Arafat seit 1969 angeführt hat, und zum anderen die Palästinensische Autonomiebehörde, die er im Rahmen der Osloer Verhandlungen etabliert hat.

Ich denke, dass zunächst einmal die Zeit dieser Institutionen kommen wird. Politiker in der Palästinensischen Autonomiebehörde, wie zum Beispiel Achmed Kurei als Ministerpräsident oder der Exekutiv-Sekretär der PLO, Mahmud Abbas, werden eine zentrale Rolle spielen. Es wird zwar eine andere Situation sein, als unter der direkten Präsenz und Führung Arafats, aber diese Institutionen werden sie auf ihren unterschiedlichen hierarchischen Ebenen durchaus meistern können.

Hamas hat sich gewandelt

tagesschau.de: In letzter Zeit ist vor allem seitens der Hamas der Ruf nach einer kollektiven Führung laut geworden. Wie könnte so ein Gremium aussehen und besteht bei Beteiligung der Hamas nicht die Gefahr einer Radikalisierung des palästinensischen Aufstandes?

Baumgarten: Die Hamas plädiert tatsächlich für ein neues kollektives Führungsgremium. Seit Beginn der Intifada im Herbst 2000 existiert bereits eine so genannte Nationale Führung, die aus den nationalen und islamischen Gruppen von Fatah bis Hamas besteht. Ob diese das kollektive Gremium bildet, muss noch verhandelt werden. Das allerdings wäre sowieso nur eine Übergangslösung. Danach müssten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen stattfinden. Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass sich diesmal auch die Hamas an den Wahlen beteiligen wird – im Gegensatz zu den letzten Wahlen 1996.

Die große Frage ist, ob es mit der Hamas überhaupt zu einer politischen Lösung des Konfliktes kommen kann? Wir lesen immer wieder in der Presse, dass die Hamas nur ein Ziel habe – nämlich die Zerstörung Israels. Daher sei ein politischer Prozess schon von vornherein ausgeschlossen. Ich denke, dass viele Kommentatoren bei dieser Aussage weit über das Ziel hinausgeschossen sind. Man hat ein Dokument der Hamas aus dem Jahre 1988 genommen, und dessen Gültigkeit bis heute vorausgesetzt. Dabei hat die Hamas in den letzten Jahren eine wichtige Entwicklung gemacht. Im letzten Sommer waren die innerpalästinensischen Verhandlungen so weit gediehen, dass die Hamas fast ein offizielles Statement verabschieden wollte, in dem sie die Anerkennung Israels in den Grenzen von 1967 verkündet und auf den Abzug der israelischen Armee aus den 1967 besetzten Gebieten bestanden hätte. Auf dieser Basis wäre die Hamas natürlich ein politisch ernst zunehmender Mitspieler geworden. Israel wollte das nicht akzeptieren und hat alles daran gesetzt, den Verhandlungsprozess letztes Jahr zusammenbrechen zu lassen.

Ein weiteres Problem für eine zukünftige palästinensische Führung wird sein, dass man die Hamas international nur noch als Terrororganisation einstuft. Sie ist ein politischer Spieler – auch in der palästinensischen Innenpolitik -, den man nicht einfach marginalisieren und aus jeder politischen Rechnung ausschließen kann. Es gibt Potenzial zur politischen Integration der Hamas, aber man kann unter den jetzigen Voraussetzungen nicht mit Sicherheit davon ausgehen.

tagesschau.de: Glauben Sie, dass andere palästinensische Politiker in der Lage wären, Arafat mit seiner großen Symbolkraft für alle Palästinenser zu ersetzen, oder befürchten Sie Unruhen?

Baumgarten: Welches Interesse sollten verschiedene palästinensische Gruppen denn an Chaos und bewaffneten Unruhen haben? Alle Indikatoren, die wir aus den letzten Tagen und Wochen haben, sind eigentlich eher die, dass es im Interesse all dieser politischen Gruppen ist, keinen Bürgerkrieg ausbrechen zu lassen. Die größere Problematik sehe ich aus zwei anderen Richtungen kommen: Zum einen gibt es innerhalb der Fatah Konflikte, die sich in letzter Zeit auch in bewaffneten Kämpfen entladen haben. Es wird schwierig sein, das zu kontrollieren.

Das größere Problem sehe ich seitens Israels. Wie wird die israelische Regierung unter Scharon in einer Zeit nach Arafat mit den Palästinensern umgehen? Schließlich ist Israel in einer so überwältigen Machtposition, dass es die Situation fast vollständig kontrollieren kann. Es wird entscheidend sein, ob von Scharon politische Angebote kommen, die beide Parteien aus dieser politischen Sackgasse herausbringen könnten. Im Moment zeichnet sich ab, dass niemand an der Spitze der Palästinenser einen Deut mehr von Scharon bekommen wird, als er vorher schon angeboten hat. Nur mit einem halbherzigen Abzug aus dem Gaza-Streifen wird es für jede palästinensische Führung schwierig, die Situation auf längere Sicht unter Kontrolle zu bekommen. Der palästinensische Aufstand würde weiter laufen, denn die Leute haben schlicht die Nase voll von der Besatzung.

tagesschau.de: Würde Israel sich dann nicht selbst widersprechen? Schließlich wurde ja immer wieder behauptet, dass Arafat das Haupthindernis für Friedensverhandlungen sei. Wenn dieses Hindernis mit dem Tod Arafats aus dem Wege geräumt wäre, könnte doch wieder Bewegung in den Friedensprozess kommen?

Baumgarten: Ich denke, dass diese Aussage nur vorgeschoben ist, denn es übersieht eine wichtige Sache: Es war ja Arafat, der als treibende palästinensische Kraft die Anerkennung Israels vorangetrieben und die Zwei-Staaten-Lösung in die palästinensische Diskussion eingebracht hat. Heute stand in einer israelischen Zeitung, dass Israel immer einen Sündenbock brauche – so habe man eben Arafat auserkoren und nun, wenn er weg sei, werde man ganz schnell versuchen müssen, einen neuen Sündenbock zu finden. Das alles geschieht, um die Augen vor der Realität zu verschließen: Israel muss die Besatzung beenden. Es geht nicht an, die Besatzung und den Siedlungsbau, den die Palästinenser als kolonialistische Expansion wahrnehmen, weiterzuführen und dann Arafat oder einer neuen politischen Führung die Schuld an dem Scheitern eines Friedensprozesses zu geben.

Das Gespräch am 08.11.04 führte Leila Ulama, tagesschau.de