Abtreibungsrecht in Mexiko Die Verteufelung geht weiter
Seit einigen Wochen dürfen Abtreibungen in Mexiko nicht mehr strafrechtlich verfolgt werden. Doch betroffenen Frauen nutzt die höchstrichterliche Entscheidung wenig: Hetze und Diskriminierung gehen weiter.
Abtreibung wurde legalisiert. Wir töten damit die Kinder, die uns stören. Die Kinder können sich nicht dagegen wehren. Warum töten wir nicht die Mutter? Sie wird der Gesellschaft auch nichts mehr nützen. Eine Frau, die abgetrieben hat und möglichweise als Folge nie Kinder kriegen wird, bringt nichts mehr
So hetzte der Priester Lázaro Hernández während eines Gottesdienstes vor seiner Gemeinde in Coahuila. Kurz zuvor hatte der Oberste Gerichtshof in Mexiko entschieden, dass Abtreibung kein Verbrechen mehr ist. Zwar ging es bei dem Urteil nur um einen Paragrafen im nördlichen Bundesstaat Coahuila, jedoch hat der Urteilsspruch Auswirkungen auf die Rechtsprechung im ganzen Land.
Mexiko wird damit zum bevölkerungsreichsten Land mit katholischer Mehrheit, in dem die Abtreibung entkriminalisiert wird. Demnach dürfen Abtreibungen im Frühstadium der Schwangerschaft sowie bei Vergewaltigung, Gefährdung der Gesundheit der Schwangeren oder lebensunfähigem Fötus nicht unter Strafe gestellt werden. Legal sind sie in 28 Bundesstaaten deshalb trotzdem noch nicht.
Zudem wurde ein Gesetz gekippt, das es medizinischem Personal erlaubt, Abtreibungen aus Gewissensgründen abzulehnen. Das sei ein wichtiges Signal, allerdings nur ein erster Schritt.
Anweisungen sind das eine
Aussagen wie die des Priesters seien keine Ausnahme, sagt Luz María Reyes, Frauenrechtsanwältin aus Veracruz, einem der vier Bundesstaaten, in denen Abtreibung legal ist: "Gestern habe ich erfahren, dass das Gesundheitspersonal des Bundesstaates Veracruz bereits angewiesen wurde, dass jede Frau, die eine Abtreibung in Anspruch nehmen will, diese auch erhalten muss. Aber das eine ist die Anweisung. Die Diskriminierung der Frauen, die abtreiben wollen, geht weiter."
Viele Frauen setzten sich deswegen nach wie vor großen Gefahren aus, wenn sie unter zweifelhaften Bedingungen eine Abtreibung vornähmen. Es mangele nach wie vor an Fachkenntnissen beim medizinischen Personal. Die Voraussetzungen für eine Abtreibung in den Kliniken sei längst nicht gegeben, erklärt die Frauenrechtsanwältin. "Selbst wenn es im öffentlichen Krankenhaus inzwischen möglich ist, werden weiterhin oft die falschen Medikamenten-Dosen verabreicht, die Frauen werden erneut zu Opfern."
Begleitung per Chat
Arlette möchte Abhilfe schaffen. Sie und ihre Kollegin Alejandra bekommen Nachrichten von verzweifelten Frauen, die ungewollt schwanger geworden sind. Ihren vollständigen Namen wollen die beiden lieber nicht nennen. Sie begleiten Betroffene, die bis zur 12. Woche selbst einen Schwangerschaftsabbruch mit Medikamenten vornehmen wollen, berichtet Arlette:
Die Frauen kontaktieren uns über die sozialen Netzwerke. Darüber erhalten sie eine Telefonnummer. Sie schreiben uns eine Nachricht. Wir öffnen dann eine Whatsapp-Gruppe mit zwei Begleiterinnen und erarbeiten einen Plan nach ihren Bedürfnissen - je nachdem, in welchem Monat sie sind. Voraussetzung ist, dass sie uns einen Ultraschall vorlegen.
Die Frauen nehmen rezeptfreie Medikamente. Eines davon ist Misoprostol, das eigentlich bei Magengeschwüren eingesetzt wird. Misoprostol kann aber auch ein Ende der Schwangerschaft bewirken, die Ausstoßung des Fötus. Die Dosierung erfolgt über eine Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation WHO. Bis zu zehn Tage bleiben sie mit den Frauen in Kontakt, sagt Alejandra. "Wir begleiten sie so lange, bis wir sicher sind, dass es keine Reste mehr im Körper gibt. Danach lösen wir die Whatsapp-Gruppe auf."
Frauen in Mexiko-City demonstrieren für sichere und legale Abtreibungen.
Geringes Risiko bei medikamentösem Abbruch
Viele Frauen seien natürlich verunsichert. Gerade deswegen sei der engmaschige Kontakt zu den Begleiterinnen sehr wichtig. Sie bitten sie um Fotos und Videos. Die Frauen reagierten teils sehr stark auf die Medikamente, das erschrecke sie. Sie bekämen Fieber, Schüttelfrost. "Sie sind dann verängstigt und gehen ins Krankenhaus. Wir sagen ihnen dann, geht nicht. Dort werden sie dir Medikamente geben, damit der Fötus erhalten bleibt." Bis vor wenigen Monaten liefen sie zudem Gefahr kriminalisiert zu werden. In Veracruz wurde Abtreibung erst im Juli dieses Jahres legalisiert.
Ein Abbruch mithilfe von Medikamenten wirke zu 95 bis 98 Prozent, das Risiko dabei sei gering. Die Begleiterinnen erklären den Frauen vorab, was zu tun ist, wenn sie übermäßige Blutungen bekommen. Alejandra und Arlette bilden sich regelmäßig fort - u.a. in einer Klinik, in der Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen werden. All das machen sie ehrenamtlich.
Gerade weil das Thema Abtreibung nach wie vor ein gesellschaftliches Tabu in Mexiko ist, hätten viele Frauen ein großes Bedürfnis zu reden, erzählt Arlette. "Sie erzählen uns ihre ganze Geschichte, dass sie vergewaltigt wurden, dass ihr Mann sie misshandelt hat." Es meldeten sich Frauen nicht nur aus ganz Mexiko, sondern auch aus El Salvador, Kolumbien - aus Ländern, in denen das Abtreibungsrecht noch strikter ist. Seit 2019 haben Arlette, Alejandra und weitere Begleiterinnen etwa 80 Frauen durch die Abtreibung geleitet.
Aufklärung im Unterricht fehlt
Inspiriert durch Frauen in Argentinien hat sich auch in Mexiko ein Ableger der Bewegung "Marea Verde" - "Grüne Welle" gegründet. Die Frauen, die bei Protesten grüne Tücher tragen, setzen sich für die sichere und kostenfreie Abtreibung, Sexualkunde in Schulen und Zugang zu Verhütungsmitteln ein.
Gerade an der Aufklärung mangele es im Schulunterricht, kritisiert Arelette. "In der sechsten Klasse müssen sie einen Monat auf ein Ei aufpassen. Es darf nicht kaputtgehen. So läuft hier die sexuelle Aufklärung." Arlette und Alejandra bieten auch Workshops zur Aufklärung von jungen Frauen an. Doch bis die Arbeit der Begleiterinnen bei Abtreibungen überflüssig ist, wird es dauern.