Interview mit Ex-NATO-General "Ein Weckruf an die Europäer"
Die NATO in der Krise? Die "Hirntod"-Kritik von Macron teile er nicht, sagt Ex-NATO-General Ramms. Er sieht die Kritik eher als Weckruf - und schickt einen deutlichen Appell an die deutsche Regierung.
tagesschau.de: Ist die NATO hirntot?
Egon Ramms: Nein, die Hirntod-Analyse von Frankreichs Präsident Emanuel Macron teile ich nicht. Die NATO hat in ihrer langen Geschichte schon viele Krisen erlebt. Und sie ist immer wieder herausgekommen.
tagesschau.de: Wie sehr schadet die Kritik dennoch der NATO?
Ramms: Ich glaube, dass es nicht seine Absicht war, der NATO zu schaden, sondern er möchte Leute wecken. Nur Europa als Ganzes kann in der Weltpolitik noch eine Rolle spielen. Ich glaube, das ist ein Hilferuf von seiner Seite, dass die Europäer endlich wach werden sollen - denn die Zeit läuft.
Egon Ramms war einer der ranghöchsten deutschen Generäle in der NATO. Er war von Januar 2007 bis September 2010 Befehlshaber des "Allied Joint Force Command" in Brunssum in den Niederlanden.
tagesschau.de: Wie lässt sich dieser Schaden noch reparieren?
Ramms: Sowohl in der EU als auch im Bereich der europäischen NATO-Staaten müssen die Mitglieder enger zusammenrücken. Sie müssen beispielsweise eine gemeinsame Streitkräfte-Planung für die Europäische Union entwickeln und auf diese Art den europäischen Pfeiler der NATO verstärken.
tagesschau.de: Welche Rolle möchte Frankreich dabei wohl übernehmen?
Ramms: Ich glaube, dass Präsident Macron es gerne sehen würde, wenn Frankreich in diesem Prozess die Führungsrolle übernimmt. Aber das ist nicht die einfache Lösung und das ist möglicherweise keine gute Lösung. Sondern hier muss eine faire Lastenteilung zwischen allen europäischen Staaten sowohl innerhalb der NATO als auch entsprechend der EU gewährleistet sein.
tagesschau.de: Macron fordert europäische Souveränität, wie sieht das aus?
Ramms: Die entscheidende Rolle ist, inwieweit die Staaten bereit sind, sich zusammenzuschließen und dabei nur Teile von ihrer Souveränität abzugeben. Beispielsweise die Entscheidung über den Einsatz von Streitkräften.
tagesschau.de: Bundesaußenminister Heiko Maas schlägt eine Expertenkommission vor, um eine politische Strategie zu entwickeln. Richtig so?
Ramms: Nein, das braucht es nicht. Der NATO-Generalsekretär kann jederzeit im internationalen Stab entsprechende Aufgaben erteilen und bei Bedarf die Beteiligung der Nationen bis auf die Botschafterebene hinzuziehen. Es geht hier hauptsächlich um Probleme, die durch die USA und durch die Türkei verursacht werden. Wie soll man so einen Knoten mit Experten auflösen?
tagesschau.de: Wie sähe ein militärisch souveränes Europa denn konkret aus?
Ramms: Das werden wir nicht bekommen. In Frankreich entscheidet der Präsident. Bei uns muss bei fast jedem Einsatz der Bundestag mitreden. Wenn der französische Präsident sagt ‚ich drücke auf den Knopf, weil ich an irgendeiner Stelle Streitkräfte brauche', dann wird er nicht'warten, bis der Bundestag zugestimmt hat.
"Deutschland muss aktiver werden"
tagesschau.de: Muss sich Deutschland hier bewegen?
Ramms: Deutschland muss erst einmal aktiver werden. Deutschland ist in meinen Augen zu wenig fokussiert auf die Außenpolitik. Da muss man sich mit den anderen Staaten der EU zusammensetzen, auch mal ein strategisches Konzept niederschreiben, wie Europa in den nächsten 30, 40 Jahren vorgehen will: Strategien reichen bei uns üblicherweise immer nur vier Jahre - von Wahl zu Wahl. Dafür ist eine solche Betrachtung schlicht und einfach zu kurz.
tagesschau.de: Ist die deutsche Gesellschaft überhaupt bereit, diese Diskussion zu führen?
Ramms: Deutschland hat bewiesen, dass es Friedenspolitik betreibt. Aber zu vollständiger Politik gehören Streitkräfte und die militärische Option mit dazu. Militär zu haben, heißt ja nicht, Streitkräfte einzusetzen. Streitkräfte sind ein Mittel der Politik. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass man dieses volle Instrumentarium von Diplomatie bis Militär entsprechend nutzen muss, wenn man Politik machen will. Das ist auch das Verständnis der anderen europäischen Staaten, auch der kleineren Staaten.
tagesschau.de: Wenn man jetzt wirklich sagt, wir erarbeiten eine handfeste militärische Strategie und wir handeln im Zweifelsfall auch, auch die Deutschen...
Ramms: Deutschland hat manchmal den Ruf, dass es sich wegduckt. Sich mit Logistik und Sanitätsdienst beschäftigt, wenn es um den Einsatz von Streitkräften geht, in Afghanistan in den friedlicheren Norden geht - wie es damals bei der ISAF-Mission gewesen ist. Wir haben der deutschen Bevölkerung lange erzählt, dass wir dort sind, um Schulen zu bauen und Brunnen zu bohren, obwohl zu dem Zeitpunkt bereits deutsche Soldaten gefallen waren. Der Staatsbürger hat ein Recht auf die Wahrheit.
tagesschau.de: Haben Sie den Eindruck, dass die deutsche Bundesregierung insgesamt eine Strategie in der NATO hat?
Ramms:. Die Frage kann ich eindeutig beantworten: Nein. Die Bundesregierung hat nicht nur in der NATO keine Strategie.
Braucht die NATO eine neue Strategie? Frankreichs Präsident Macron hat mit seiner Kritik an dem Bündnis eine Debatte ausgelöst.
"Wichtig ist die außenpolitische Rolle"
tagesschau.de: Anfang Dezember findet der NATO-Gipfel in London statt. Was wird, was muss passieren?
Ramms: Ich würde mir wünschen, dass die NATO ein neues strategisches Konzept herausgibt - mit Blick auf das Verhalten von Bündnispartnern sowie mit Blick auf die Welt-Situation, beispielsweise auch in der Behandlung von China. Das sind Dinge, mit denen sich die NATO auseinandersetzen muss. Eine Reihe von Mitgliedsstaaten sieht die NATO nicht in einer außenpolitischen Rolle, sondern mehr in einer militärpolitischen. Das halte ich grundsätzlich für falsch.
tagesschau.de: Wie sollte die außenpolitische Rolle der NATO aussehen?
Ramms: Sie sollte sich an der Außenpolitik der Mitgliedstaaten orientieren. Das bedarf eines entsprechenden Einigungsprozesses: Wie gehe ich mit welchem Land um? Dann sollte die NATO über den Generalsekretär mit einer Stimme reden und für die Mitgliedsstaaten eine außenpolitische Linie vertreten. So wird es ein politisches Bündnis. Das ist es für mich immer schon gewesen.
Das Interview führte Merle Tilk, ARD-Studio Brüssel