Rolle der NATO im Ukraine-Konflikt "Bloß keine militärischen Gesten"
Wie soll die NATO auf Russlands aggressiven Kurs im Ukraine-Konflikt reagieren? "Vorschnelle militärische Gesten hätten keinen Sinn", sagt der Friedensforscher Matthias Dembinski im tagesschau.de-Interview. Das heißt konkret: Manöver ja. Truppenstationierung nein.
tagesschau.de: Braucht die NATO im Zuge der Ukraine-Krise eine neue Strategie?
Matthias Dembinski: Ich glaube, dass wir in der Tat mit einer neuen Sicherheitslage konfrontiert sind. Bisher ist die NATO davon ausgegangen, dass Russland Teil einer sich herausbildenden europäischen Friedensordnung sein möchte. Es war zwar klar, dass Russland nicht Vollmitglied der NATO sein, aber institutionell eng mit ihr verkoppelt sein würde. In der NATO-Russland-Grundakte steht deshalb auch, dass die NATO keine Kampftruppen und keine Nuklearwaffen in den neuen Mitgliedsstaaten stationieren wird. Daher hat die NATO bei der Erweiterung ganz konkret darauf verzichtet, ihre Militärstruktur mit auszubauen.
tagesschau.de: Wie hat sich die Situation verändert?
Dembinski: Es gab geraumer Zeit eine Diskussion darüber, wie die NATO ihr Beistandsversprechen gegenüber den neuen Mitgliedern - den baltischen Staaten und Polen - einlösen kann. Die bisherige Antwort war, dass man zusätzliche Manöver durchführt und Air-Policing betreibt, was bedeutet, dass die NATO-Mitglieder den Luftraum der baltischen Staaten absichern. Die NATO wird derartige Aktivitäten intensivieren, aber zur Zeit noch nicht darüber hinausgehen.
Permanente Truppen in Osteuropa? "Das ist genau der Knackpunkt"
tagesschau.de: Warum nicht Truppen permanent stationieren, wie NATO-General Breedlove angeregt hat?
Dembinski: Das ist genau der Knackpunkt. Wird sich die NATO in den osteuropäischen Mitgliedsstaaten auch weiter auf Übungen und Manöver beschränken - oder wird sie dauerhaft substanzielle Truppen in diesen Ländern stationieren? Meiner Einschätzung nach sind die Äußerungen von General Breedlove seine persönlichen und entsprechen noch nicht dem Konsens innerhalb der NATO.
tagesschau.de: Warum nicht?
Dembinski: Wie die Dinge stehen, habe ich nicht das Gefühl, dass es in der Allianz einen Konsens gibt, diesen Schritt zu vollziehen, denn das wäre schon eine sehr deutliche Änderung der Sicherheitspolitik. NATO-Generalsekretär Rasmussen war zum Beispiel in seiner jüngsten Rede sehr viel vorsichtiger als General Breedlove.
tagesschau.de: Wie sollte die NATO auf die russischen Aktionen in der Ukraine reagieren?
Dembinski: Es sollte einen Kompromiss geben. Auf der einen Seite sollte man die Sicherheitsbedürfnisse der neuen Mitgliedsländer ernst nehmen, auf der anderen Seite vermeiden, dass die politische Krise in der Ukraine als militärische Konfrontation wahrgenommen wird. Es hat für die NATO keinen Sinn, durch vorschnelle militärische Gesten diesem Konflikt eine militärische Dimension zu geben. Die NATO muss auch Sorge tragen, dass Grundkonzepte wie die militärische Stabilität in Europa nicht über den Haufen geworfen werden.
"Die USA rüsten viel stärker auf als Russland"
tagesschau.de: Rasmussen bemängelt, dass die NATO-Staaten ihre Verteidigungsausgaben kürzen würden, während Russland sie erhöhe. Für wie gefährlich halten Sie diese Situation?
Dembinski: Da muss man die Fakten erstmal etwas gerade rücken. Es ist zwar richtig, dass die meisten europäischen Verbündeten seit Jahren ihre Verteidigungsausgaben zurückfahren. Die USA hingegen haben geradezu eine Hochrüstungspolitik betrieben und soviel Geld für Rüstung ausgeben, wie die nächsten vier größten Militärmächte zusammen. Ich sehe also dieses Bild einer militärischen Lücke zwischen Russland und der NATO nicht. Man muss auch in Rechnung stellen, dass die russische Aufrüstung in letzter Zeit von einem vergleichbar niedrigen Plateau gestartet ist. Das ist sicherlich eine Trendumkehr, die man genau beobachten muss, bildet aber kein Anlass für Alarmismus.
tagesschau.de: Was passiert auf dem NATO-Gipfel im September?
Dembinski: Das hängt stark davon ab, wie sich die Lage in der Ukraine entwickeln wird. Wenn es doch noch eine diplomatische Lösung der Krise geben sollte, dann vermute ich, dass die NATO dabei bleibt, ihr militärisches Engagement in den neuen Mitgliedsstaaten durch mehr Übungen und Verteidigungspläne zu erhöhen. Wenn sich die Situation weiter zuspitzt und eindeutig erkennbar wird, dass Russland militärische Mittel einsetzt, um weiter offensiv in der Ukraine vorzugehen, dann kann ich mir vorstellen, dass die NATO von ihren eingangs erwähnten Versprechungen abrückt und tatsächlich dauerhaft Kampfverbände in den neuen Mitgliedsstaaten stationiert.
Zu einem Dialog gehört auch Russland
tagesschau.de: Welche diplomatischen Möglichkeiten gibt es denn überhaupt noch?
Dembinski: Zwei Prozesse wären notwendig. Aus der Ukraine heraus muss der Versuch gestartet werden, ein Einvernehmen herzustellen zwischen Vertretern den eher russisch orientierten Gruppen und denjenigen, die mehr eine europäische Perspektive im Blick haben. Ich finde die Einrichtung eines Runden Tisches, wie er vor wenigen Tagen gelungen ist, eine sehr positive Entwicklung. Darüber hinaus müsste ein äußerer Rahmen diesen internen Dialogprozess begleiten. Und dazu gehört auch Russland. Es ist wichtig, dass die territoriale Integrität der Ukraine nicht in Frage gestellt wird, dass es keine weiteren Abspaltungen geben wird.
tagesschau.de: Was kann der Westen noch tun, um den Konflikt zu entschärfen?
Dembinski: Der Westen muss sich klar werden, welchen Stellenwert die Ukraine in einer europäischen Sicherheitsordnung haben soll. Wenn man nicht möchte, dass die Ukraine gespalten wird, sondern eine Brücke zwischen dem Westen und Russland bildet, müsste man auch konzedieren, dass die Ukraine auf Dauer nicht Mitglied der NATO werden kann.
Das Interview führte Ina Linden, tagesschau.de