Bericht aus Nordnigeria "Alles war niedergebrannt"
Die Terrormiliz Boko Haram zieht mordend und plündernd durch Nordnigeria. Als eine von ganz wenigen Journalisten war ARD-Korrespondentin Shafagh Laghai in Yola, wo sich Zehntausende Flüchtlinge aufhalten. tagesschau.de hat sie von ihren Eindrücken erzählt.
tagesschau.de: Wo genau sind Sie in Nigeria?
Shafagh Laghai: Ich bin in dem Ort Yola, im Bundesstaat Adamawa. Das ist in einer der drei Bundesstaaten im Nordosten Nigerias, die sich im Ausnahmezustand befinden, die am stärksten betroffen sind vom Boko-Haram-Terror. In Yola selbst ist es relativ sicher, aber etwa 100 Kilometer von hier entfernt sind Dörfer, die gerade erst von Boko Haram angegriffen wurden. Und das Territorium, das derzeit von Boko Haram kontrolliert wird, ist nur etwa 200 Kilometer entfernt.
tagesschau.de: Wie ist die Situation für die Menschen in Yola?
Laghai: Das Leben läuft eigentlich ganz normal weiter. Die Schulen und die Märkte sind geöffnet. Die Leute gehen zur Arbeit. Aber alle haben schreckliche Angst. Sie schlafen nicht in Ruhe ein, weil die Boko-Haram-Kämpfer eben nicht weit weg sind. Niemand weiß, wann und wo sie zuschlagen werden.
Am schlimmsten aber ist für die Menschen, dass das Militär immer wieder gezeigt hat, dass es die Menschen nicht beschützen kann. Es gibt kein Vertrauen in den Staat. Deswegen ist die Stimmung hier sehr angespannt. Auf der anderen Seite läuft alles ganz normal. Wobei das auch nicht ganz stimmt: Hier sind nämlich momentan mehr als 100.000 Flüchtlinge. Ihre Dörfer wurden zerstört.
tagesschau.de: Wie kommen die alle unter?
Laghai: Es gibt Flüchtlingscamps: fünf große und zehn kleinere. Aber die meisten Menschen sind bei Familienmitgliedern untergekommen. Ein Mann hat mir erzählt, dass sie in einem Haus mit 50 Menschen leben. Und die Häuser hier sind nur sehr klein. Die meisten möchten aber auch möglichst schnell weiter, weil es ihnen hier nicht weit genug weg ist.
Ein Arzt für 50.000 Menschen
tagesschau.de: Wie ist die Versorgung der Flüchtlinge?
Laghai: Es gibt zwar Lebensmittelrationen, die der Staat zur Verfügung stellt. Dadurch verhungern die Menschen nicht. Aber abgesehen davon gibt es fast keine Versorgung. Ich war in einem der Behandlungszentren. Das hat vier Betten, eines ohne Matratze. Ein Arzt ist alleine zuständig für fünf Camps, das heißt ein Arzt für ungefähr 50.000 Menschen.
tagesschau.de: Gibt es internationale Hilfe?
Laghai: Bislang nicht. Meistens gibt es in Krisenregionen zahlreiche Zelte von den UN, von UNICEF, von "Ärzte ohne Grenzen", dem Roten Kreuz und so weiter. Hier fehlt das gänzlich. Allerdings haben wir gestern gehört, dass eine Art Vorhut von "Ärzte ohne Grenzen" hier war.
tagesschau.de: Wie schätzen Sie die unmittelbare Bedrohung ein?
Laghai: Es gibt natürlich eine Gefahr für ausländische Helfer. Und die ist auch größer als für uns Journalisten. Wir sind für kurze Zeit hier, und wir sind schwieriger zu fassen, weil wir keine feste Tagesroutine haben. Das ist bei Hilfsmitarbeitern natürlich anders. Trotzdem brauchen die Flüchtlinge hier internationale Unterstützung.
tagesschau.de: Sind die Flüchtlinge auch verletzt?
Laghai: Wir haben hier zumindest keine Menschen mit Kriegsverletzungen gesehen. Es gibt Menschen, die haben Brandverletzungen. Aber, so bitter es klingt, entweder man schafft es zu entkommen und überlebt, oder man wird getötet.
Nur mit besonderem Sicherheitskonzept unterwegs
tagesschau.de: Wie sind die Arbeitsbedingungen für Sie und Ihr Team?
Laghai: Wir haben einen Sicherheitsberater, der für unsere Sicherheit Regeln aufstellt. Er kümmert sich darum, wie wir hier reisen, was für Autos wir benutzen, welche Routen wir nehmen.
Außerdem haben wir einen Tracker dabei, der, wenn wir unterwegs sind, alle Viertelstunde unseren genauen Standort an eine Sicherheitsfirma sendet und diese Firma gibt die Informationen dann an den WDR in Köln. So wissen eigentlich immer unterschiedliche Leute, wo wir gerade sind. Und auch hier vor Ort haben wir Leute, denen wir vertrauen, die dann auch Bescheid wissen.
Und in Yola war es eigentlich relativ sicher. Trotzdem kann hier auf dem Markt jederzeit eine Bombe hochgehen. Das kann immer passieren.
tagesschau: Haben Sie sich auch aus Yola heraus bewegt?
Laghai: Nach vielen Diskussionen sind wir in eine Stadt 140 km von Yola entfernt gefahren. Die ist unter der Kontrolle von Boko Haram gewesen. Jetzt ist sie wieder in Regierungshand. Die Situation war schon sehr angespannt für uns. Es gibt wirklich wenig Journalisten, die da hinreisen, auch keine lokalen Journalisten. Das Ausmaß an Zerstörung war enorm. Viele Häuser, Kirchen, auf dem Markt, Regierungsgebäude - alles war niedergebrannt.
Dort hatten wir auch ein Sicherheitskonzept: Wir waren insgesamt nur eine Stunde dort. Und wir durften pro Schauplatz nicht länger als fünfzehn Minuten irgendwo sein und mussten dann immer gleich wieder weiter. Und natürlich haben wir nicht im Voraus gesagt, wo wir wann sein werden. Das alles, damit man unsere Route nicht vorhersehen konnte.
Viele Menschen sind tief traumatisiert
tagesschau.de: Welchen Eindruck hatten Sie von den Menschen in der Stadt?
Laghai: Wir haben die Angst richtig in ihren Augen, in ihren Gesichtern gesehen. Sobald man sie gefragt hat, wie es war, als die Boko-Haram-Kämpfer in den Ort gekommen waren, hat keiner mehr geantwortet. Die haben solche Angst. So dass sie auch die Worte "Boko Haram" nie aussprechen. Ganz ganz viele Menschen hier haben ein wirklich tief sitzendes Trauma - kein Wunder nach dem, was sie erlebt haben.
tagesschau.de: Was haben die Menschen dort Ihnen noch erzählt?
Laghai: Eine Sache fand ich sehr interessant: Die Terroristen sagen ja immer, sie wollen einen unabhängigen islamischen Staat gründen. Mich hat daher auch interessiert, ob sie irgendwelche staatlichen Strukturen übernommen haben, irgendeine Art von Regierung gegründet haben. Und das gab es eben gar nicht. Anders als etwa der IS oder andere Rebellengruppen, etwa im Kongo, die richtige Strukturen haben. Hier hingegen wurde einfach alles zerstört und platt gemacht, einfach nur geplündert, gemordet. Es ist sehr schwierig, die Strategie von Boko Haram zu durchschauen. Das sagen auch viele Analysten.
tagesschau.de: Die Flüchtlinge haben Ihnen von schrecklichen Erlebnissen erzählt. Wie können Sie damit umgehen?
Laghai: Das ist mit Sicherheit der schwierigste Teil vom Job, jenseits von Sicherheitsbedenken. Diese Gespräche mit Menschen, die unvorstellbare Dinge durchgemacht haben, sind wirklich sehr sehr schwierig. Man muss eine professionelle Distanz aufbauen können. Ansonsten kann man den Job nicht machen.
Die Fragen stellte Frederike Buhse für tagesschau.de.
Einen ausführlichen Bericht zu diesem Thema sehen Sie am Sonntag um 19:20 Uhr im Weltspiegel im Ersten.