Experte zu Nordkorea "Eine völlig unbeachtete humanitäre Krise"
Außenpolitisch stehen die Zeichen auf Entspannung. Doch weitaus weniger beachtet: Nordkorea droht eine massive Hungersnot. "Hunderttausende Menschenleben sind in Gefahr," sagt Entwicklungshelfer Hartzner im tagesschau.de-Interview.
tagesschau.de: Erstmals seit drei Jahren finden wieder Familienzusammenführungen zwischen Nord- und Südkorea statt. Ist Nordkorea dabei, sich nachhaltig zu öffnen?
Kim Hartzner: Das ist schwer einzuschätzen. Es gab immer wieder mal solche Hoffnungen, die sich letztlich nicht bewahrheitet haben. Ich hoffe diesmal wirklich, dass das Land aus der Isolation herauskommt. Es ist ja vor allem die Bevölkerung, die darunter zu leiden hat, insofern ist eine Öffnung bitter nötig.
Kim Hartzner ist Geschäftsführer und Mitgründer der Entwicklungsorganisation Mission East, die in zahlreichen Ländern Programme zur humanitären Hilfe und Katastrophenhilfe verwirklicht. Er selbst ist Arzt und arbeitet immer wieder in Regionen, die für Entwicklungshilfe schwer zugänglich sind, wie Afghanistan, Irak, Syrien, Bangladesch und Nordkorea.
tagesschau.de: Wie sehen die Menschen im Land das? Werden erste Veränderungen schon wahrgenommen?
Hartzner: Die sind sehr skeptisch und zurückhaltend, wenn man sie zu Politik befragt. In den Gesprächen wird aber deutlich, dass sie den Austausch mit der Außenwelt wollen. Kim Jong Un selbst sagte ja nach den Gesprächen mit Donald Trump, er werde nicht mehr auf Aufrüstung setzen, sondern sich mehr um die Probleme der Zivilbevölkerung kümmern.
Eine erste politische Verbesserung gibt es allerdings bereits seit einem Jahr. Seitdem dürfen die Bauern, die auf Hängen mit einer Neigung über 15 Prozent etwas anbauen, den Ertrag selbst nutzen und verkaufen. Im ganzen Land gibt es inzwischen Benutzergruppen, die das machen und so die Nahrungsmittelknappheit wenigstens ein bisschen abfedern.
55.000 Kinder vom Tode bedroht
tagesschau.de: Sie sind gerade in Nordkorea gewesen: Wie ist die Situation der Menschen im Land aktuell?
Hartzner: Laut jüngsten UN-Erhebungen sind mehr als 40 Prozent der Bevölkerung unterernährt, genauso viele haben keinen Zugang zu fließend Wasser und sanitären Anlagen. Mehr als zehn Millionen Menschen sind von humanitärer Hilfe abhängig, etwa 55.000 Kinder leiden unter akuter Unterernährung, das bedeutet: an der kleinsten Krankheit oder Entzündung können sie sterben.
Die Kenntnisse über Hygiene sind schlecht, was die Verbreitung von Krankheiten begünstigt, multirestistente Tuberkulose ist weit verbreitet und auch die medizinische Versorgung ist mangelhaft. Es fehlen Medikamente und beispielsweise Röntgengeräte in einigen Krankenhäusern.
tagesschau.de: Warum hungern so viele Menschen?
Hartzner: Das hat mehrere Gründe: Erstens sind nur 20 Prozent der Flächen überhaupt landwirtschaftlich nutzbar, weil Nordkorea sehr bergig ist. Ein Großteil der Arbeit wird von Hand verrichtet, weil Landmaschinen fehlen und es einen ständigen Mangel an Brennstoff gibt. Die Maschinen, die es gibt, sind veraltet, genau wie einige der landwirtschaftlichen Methoden.
Das hat - zweitens - auch mit den Sanktionen zu tun, die im Januar 2018 noch einmal verschärft wurden. Selbst Geräte, die der Nahrungsmittelversorgung dienen, dürfen nicht ins Land. UN-Spezialisten haben mir gesagt, dass UN-Geräte, beispielsweise zur Milch- oder Sojaproduktion, im Wert von zweieinhalb Millionen Dollar an der Grenze zwischen China und Nordkorea stehen. Durch den fehlenden Brennstoff kann das, was geerntet und produziert wird, nicht im Land verteilt werden.
Das dritte Problem sind die in den vergangenen zehn Jahren zunehmenden Naturkatastrophen wie Dürren, Überschwemmungen und Stürme. Erschwerend kommt hinzu, dass es neben der EU, den UN und dem Roten Kreuz nur etwa ein Dutzend Hilfsorganisationen gibt, die im Land arbeiten. Die Herausforderung ist riesig und die Mittel, die wir zur Verfügung haben, sind gering.
"Geldgeber sind zurückhaltend geworden"
tagesschau.de: Warum ist es so schwierig für Hilfsorganisationen in Nordkorea?
Hartzner: Ein großes Problem ist, dass die internationalen Geber wegen der politischen Situation sehr zurückhaltend geworden sind und nur sehr wenige Gelder für Nordkorea freigegeben. Die USA und Südkorea haben bei der letzten großen Hungersnot 2012 noch Nahrungsmittelhilfen geliefert, jetzt tun sie das nicht mehr. Die EU stellt dieses Jahr für Entwicklungshilfe in Nordkorea 2,5 Millionen Euro zur Verfügung, das ist viel zu wenig.
tagesschau.de: Aus Angst, das Geld oder die Hilfen könnten vom Regime abgefangen werden?
Hartzner: Ja, das ist das, was immer gesagt wird. Aber meine Erfahrung in sieben Jahren Arbeit vor Ort ist, dass jeder dort investierte Euro gut angekommen ist. Ich sehe viel weniger Korruption als in vielen anderen Ländern. Die nordkoreanischen Behörden sind im Großen und Ganzen zuverlässig und gut ausgebildet.
Und wir haben ungehinderte Möglichkeit zu Kontrollen dort, wo wir unsere Projekte durchführen. Das ist auch die Bedingung, die alle NGOs vor Ort stellen. Wir hatten beispielsweise ein Projekt, mit dem wir 400 Familien mit fließend Wasser versorgt haben. Als ich mir das Ergebnis ansehen wollte, wurden zunächst Vorzeigefamilien ausgewählt. Als ich sagte, das reicht mir nicht, ich will noch mehr sehen, gingen wir spontan zu einem anderen Haus, das definitiv nicht vorgewarnt war.
"Es geht um Hunderttausende Menschenleben"
tagesschau.de: Welche Auswirkungen hat die diesjährige Hitzewelle auf die Nahrungsmittelversorgung im Land?
Hartzner: Die Hitzewelle und die daraus resultierende Dürre betraf insbesondere den Mais. Denn wenn die Temperaturen über 32 Grad steigen und die Luftfeuchtigkeit hoch ist, kleben die Pollen zusammen und können nicht mehr befruchten. Viele Pflanzen sind vertrocknet und selbst bei den übriggebliebenen sind viele nicht gut ausgebildet. Die Maisernte wird mindestens um ein Drittel geringer ausfallen als normalerweise, wahrscheinlich aber noch deutlich darunter. Wenn man in Rechnung stellt, dass Mais ein Drittel der Nahrungsmittel der Nordkoreaner ausmacht, ist eine sehr ernste Hungersnot zu befürchten. Auch wenn wir die genauen Zahlen erst bei Ernteabschluss im Herbst kennen werden, - dass es eine Katastrophe geben wird, daran besteht kein Zweifel. Und die Weltgemeinschaft wird davon wieder kaum etwas mitbekommen, denn es gibt kaum Bilder aus dem Land und nur wenige kommen rein. Es ist eine völlig unbeachtete humanitäre Krise.
tagesschau.de: Welche Folgen für die Bevölkerung befürchten Sie?
Hartzner: Ich fürchte, dass sich die Situation von 2012 wiederholen wird. Damals war ich in einem von vielen Kinderheimen und sah dort extrem unterernährte Kinder. Sie hatten über Monate nur maximal 150 Gramm Reis am Tag bekommen und daraus resultierte, dass sie unterentwickelt und viel zu klein waren, an Proteinmangel litten, die Muskeln nicht richtig ausgebildet waren. Die Bäuche der Kinder werden dick, die Haare fallen aus, und sie werden so schwach, dass sie kaum aufstehen können. Damals waren 400.000 Kinder akut unterernährt und so dem Tode nahe. Und eine ungewisse Zahl ist davon bereits gestorben.
Wenn die Weltgemeinschaft nicht will, dass sich das wiederholt, muss sie jetzt handeln. Mein Anliegen ist, dass wir nicht auf die Politik schauen, sondern auf die hilfsbedürftigen Menschen im Land. Es geht um Hunderttausende Menschenleben.
Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de