Interview zur Lage in Nordkorea Der junge Unbekannte an der Macht
Noch nicht einmal sein genaues Alter kennt man: Gerade mal 28 oder 29 Jahre alt ist der neue nordkoreanische Machthaber Kim Jong Un. Fest steht aber: Der junge Mann wird sich seine eigenen Verbündeten suchen müssen. Davon zeigt sich der Nordkorea-Experte Walter Klitz im Interview mit tagesschau.de überzeugt.
tagesschau.de: Der verstorbene Kim Jong Il hat seit geraumer Zeit seinen Sohn, Kim Jong Un, als Nachfolger aufgebaut. Was muss man über den nächsten Machthaber Nordkoreas wissen?
Walter Klitz: Ich weiß nicht mehr als das, was international bekannt ist, und das ist reichlich wenig. Man weiß von Kim Jong Un, dass er 28 oder 29 Jahre alt ist und dass er zwei Jahre in Bern in die Schule gegangen ist. Seit etwa drei Jahren wird die Machtübergabe vorbereitet. Anfang 2009 ist Kim Jong Un als Nachfolger nach dem Schlaganfall seines Vaters auserkoren worden. Er ist Mitglied der Obersten Volksversammlung, der zentralen Militärkommission der Partei, und er ist Vier-Sterne-General. Mittlerweile ist er voll im System verankert. Ob er allerdings auch über eine Machtbasis verfügt, kann keiner sagen.
tagesschau.de: Kann Kim Jong Un seinen Machtanspruch unangefochten durchsetzen?
Klitz: Wenn man Nordkorea beurteilen will, darf man sich nicht auf einzelne Personen konzentrieren. Man muss sich vor allem auch die Entourage und das Umfeld anschauen. Im Falle Kim Jong Uns besteht dieses Umfeld überwiegend aus Familienmitgliedern, die in allen wesentlichen Positionen in der Partei, im Militär und in den gesellschaftlichen Organisationen das Sagen haben. Es handelt sich also um eine Art sozialistischer Dynastie, die in Nordkorea regiert.
Aus meinen Gesprächen in Nordkorea - vor sechs Wochen war ich das letzte Mal da - weiß ich, dass man sich dort eine längere Übergangsphase gewünscht hätte, um die Risiken des Machtverlustes in der jetzigen Phase zu minimieren. In einer konfuzianischen Gesellschaft wie der Nordkoreas zählt das Alter, und Kim Jong Un ist eben noch sehr jung. Aber die Weichen sind gestellt. Gefährlich könnte es allerdings werden, wenn die Loyalitäten, die sich noch zum Teil auf den Großvater Kim Il Sung stützen, ins Wanken geraten. Es wird im Wesentlichen darauf ankommen, dass der junge Mann es versteht, Loyalitäten bei der jüngeren Generation aufzubauen.
Den Boden dafür hat man bereits bereitet: Seit der Parteidelegiertenversammlung im September 2009 sind systematisch diejenigen ausgetauscht worden, die auch nur im Verdacht standen, dem System gegenüber nicht zu 100 Prozent loyal zu sein. Das wird fortgesetzt werden.
"Die ganze Bevölkerung trauert"
tagesschau.de: Die nordkoreanischen Staatsmedien berichten über "unbeschreibliche Trauer" nach dem Tod Kim Jong Ils. Ist das reine Inszenierung oder entspricht das doch einem echten Gefühl der Menschen?
Klitz: Man kann davon ausgehen, dass die ganze Bevölkerung trauert. Ich habe bei verschiedenen Besuchen erlebt, auch im Mausoleum des Großvaters, dass die Menschen weinen. Für die Nordkoreaner sind und waren Kim Jong Sung und Kim Jong Il wie Vater und Mutter in einer Person. Das ist ihnen ihr Leben lang beigebracht worden, und das empfinden sie auch: Der wohlwollende Führer unternimmt alles in seiner Macht Stehende, um das Leben einigermaßen erträglich zu gestalten.
Für Außenstehende ist das sehr schwer nachzuvollziehen. Auf der anderen Seite braucht das System solche Argumentationen, weil es sich selbst sonst gefährdet. Der "böse Bube" sitzt immer im Ausland. Deswegen gehe ich davon aus, dass es auch in nächster Zukunft begrenzte Provokationen geben wird, um nach innen zu zeigen, dass man alles im Griff hat. In den letzten Monaten haben wir das ja schon erlebt, leider auch die daraus folgenden Todesfälle. Beim Beschuss eines südkoreanischen Kriegsschiffes sind fast 50 Menschen ums Leben gekommen.
tagesschau.de: Das Land liegt seit Jahren wirtschaftlich am Boden. Welche Spielräume hat Kim Jong Un?
Klitz: Ich verfolge den Prozess seit mehr als fünf Jahren, ich war 21 Mal in Nordkorea, und es sieht schon erheblich besser aus. Nicht nur, dass die Menschen gelöster sind, es gibt auch inzwischen 800.000 Handys. Man sieht Luxusgüter und erlebt einen Bauboom. Da ist inzwischen eine Menge Geld unterwegs. Die wirtschaftliche Grundlage aber ist nach wie vor die Planwirtschaft. Daran kann es also nicht liegen. Wesentlich zur Veränderung beigetragen hat China, indem mehr direkt investiert wurde und indem der Handel ausgebaut wurde, mit einer Steigerungsrate von 35 Prozent allein im letzten Jahr.
"Strukturelles Defizit"
tagesschau.de: Trotzdem liest man ja immer von immensen Versorgungsproblemen. Können die Menschen auf Besserung hoffen?
Klitz: Nordkorea hat ein strukturelles Defizit. Das Land kann sich alleine nicht ernähren. Das liegt an der Topographie und an den Witterungsbedingungen. In der Monsumzeit zum Beispiel regnet es stark. 25 Prozent der Ernte werden vernichtet, weil es an Lagerungsmöglichkeiten fehlt. Aber allgemein zu sagen, in Nordkorea herrsche Hungersnot, da wäre ich vorsichtiger und zurückhaltender. Es gibt Mangelerscheinungen, Mangelernährung und ein deutliches Distributionsdefizit.
Auf dem Land, mit Ausnahme des Nordostens, wo es wirklich dramatisch aussieht, versorgen die Menschen sich im eigenen Anbau selbst. Sie haben offensichtlich aus der Krise Mitte der 90-er Jahre gelernt, als angeblich zwei Millionen Menschen verhungert sind. Das Versorgungsproblem entsteht hauptsächlich in den Städten. Dort ist man auf Lieferungen vom Land angewiesen. Aber es sind Ansätze zu beobachten. So ist in den letzten zwei Jahren eine riesige Apfelplantage von 1000 Hektar entstanden. Aber das Land ist und bleibt auf Hilfe aus dem Ausland angewiesen.
"Atomwaffen sind ein wertvolles Faustpfand"
tagesschau.de: Das Ausland beobachtet sehr aufmerksam die Atompolitik Nordkoreas. Lassen sich da die verhärteten Fronten aufweichen?
Klitz: Ich gehe davon aus, dass die Sechs-Parteien-Gespräche wieder aufgenommen werden. Ob die aber letztlich zur Entnuklealisierung des Landes führen werden, bezweifle ich stark. Die Tatsache, Atomwaffen zu besitzen, ist ein viel zu wertvolles Faustpfand, als dass Nordkorea darauf gern verzichten würde.
tagesschau.de: Mit welchem Eindruck begleitet Südkorea die Ereignisse? Steigt die Kriegsgefahr an der innerkoranischen Grenze? Oder wächst die Chance auf Wiedervereinigung?
Klitz: Auch Südkorea wünscht sich keine Wiedervereinigung von heute auf morgen. Zurzeit bereitet man sich auf die schon erwähnten Provokationen vor, bleibt aber gelassen. Mit solchen Provokationen leben die Südkoreaner seit 50 Jahren. Ich sehe nicht, dass sich Angst breit macht.
Das Interview führte Ute Welty, tagesschau.de