Eine Woche nach Anschlägen von Norwegen Nach der Angst kam die Presse
Eine Woche nach dem Doppelanschlag in Norwegen setzt auch ein Nachdenken über die Rolle der Medien ein. Man hätte mehr über den Schutz der Opfer nachdenken müssen, sagt ein norwegischer Programmdirektor. Auch der Einfluss einer islamfeindlichen Rhetorik wird diskutiert.
Von Ann-Katrin Johannsmann, ARD-Hörfunkstudio Stockholm
Marie Vaag Ederud war eine von 600 Teilnehmern im Sommerlager auf der Insel Utöya. Ihre Erinnerungen sind Szenen eines Alptraums: "Wir hörten die Leute ins Wasser fallen. Wir hörten ganze Schusssalven, zehn Schüsse und zehn Leute, die ins Wasser fallen, das war ganz unwirklich."
Sie ist müde geworden, diese Erinnerungen immer und immer zu wiederholen. Sie hat ihre Geschichte so oft erzählt, dass die Medien zu einem Teil ihres Albtraums geworden sind. Inzwischen bereut sie, dass sie sich schon kurz nach den Erlebnissen zu Interviews überreden ließ. Anderthalb Stunden nachdem sie in Sicherheit war riefen die ersten Reporter an.
Journalisten sehen eigene Rolle kritisch
Per Arne Kalbakk ist Programmdirektor des öffentlich-rechtlichen Fernsehens in Norwegen. Er betrachtet auch die eigene Rolle kritisch: "Ich sehe, dass wir in dieser Phase Fehler gemacht haben. Wir wissen, dass ein paar unserer Journalisten Menschen der Jugendorganisation auf der Insel angerufen haben. Aber das war in einer Phase, in der wir das Ausmaß des Attentats noch nicht kannten."
Der Vorsitzende der demokratischen Jugendorganisation, Eskil Pedersen, gehörte zu den wenigen Jugendlichen mit Medienerfahrung im Ferienlager. Er trat nach den Attentaten mehrfach öffentlich auf und nutzte die norwegischen Medien bewusst, um seine Mitmenschen in ihrem Glauben an die Freiheit zu bestärken: "Wir werden immer die Generation vom 22. Juli bleiben, das ist eine große Verantwortung." Pedersen hat sich jedoch stets geweigert, über seine persönlichen Erlebnisse auf der Insel mit der Presse zu sprechen.
Bedrohung von Rechts vernachlässigt?
Programmdirektor Kalbakk ist der Meinung, dass die Medien mehr über den Schutz der Opfer hätten nachdenken müssen: "Es gibt Interviews, da bin ich im Nachhinein sehr im Zweifel, ob wir sie hätten senden sollen."
Die mangelnde Fürsorge gegenüber den Opfern ist nicht der einzige Vorwurf an die norwegischen Medien. Nicht nur in ausländischen Zeitungen, sondern auch in der wichtigsten norwegischen Tageszeitung "Aftenposten" wird den Journalisten vorgeworfen, die Bedrohung von Rechts vernachlässigt zu haben.
Brynjar Lia ist Leiter der Abteilung für internationalen Terrorismus am wissenschaftlichen Forschungsinstitut der norwegischen Streitkräfte. Der international anerkannte Wissenschaftler ist der Meinung, dass die rechte Szene durch die wachsende Islamphobie an Nahrung gewonnen hat. Die norwegische Öffentlichkeit habe unterschätzt und verkannt, dass diese Rhetorik der Gewalt Nahrung geben könnte. Als Erklärung für den Mord an 77 Menschen reicht das aber mit Sicherheit nicht aus.