Opioid-Krise in den USA "Die Plage unserer Generation"
Am Anfang standen angeblich harmlose Schmerzpillen - doch inzwischen sind in den USA Zehntausende Menschen aus der Arbeiter- und Mittelschicht süchtig. Die landesweite Opioid-Krise kommt nun vor Gericht.
Die kleine Aunna ist gerade mal drei Wochen alt, ein zierliches Baby - und auf Entzug. Genau wie ihre Mutter Kelinda, drogenabhängig seit ihrer Teenagerzeit und voller guter Vorsätze, dass jetzt alles anders wird. Beide leben in "Lily's Place", einer Einrichtung in Huntington, in der in jedem Raum ein winziges Neugeborenes mit dem Entzug ringt. Die meisten von ihnen müssen diesen schweren Start ohne ihre Mütter bewältigen. Hier werden sie gehalten und umsorgt von speziell geschulten Freiwilligen, sogenannten "Cuddlers".
Von der Krankenschwester zur "Cuddlerin": Sandy hilft beim schweren Start ins Leben.
Alle 15 Minuten kommt in den USA ein Baby unter Suchteinfluss zur Welt, das die drogenabhängige Mutter, aber auch das Krankenhaus oft überfordert. "Manche dieser Babys schreien viel, die einen wollen fest im Arm gehalten werden, andere gar keine Berührung", erklärt Sandy, ehemalige Krankenschwester und jetzt "Cuddlerin". "Wir versuchen, etwas Halt in ihr stürmisches Leben zu bringen."
Die Elterngeneration fällt oft aus
Auch Andrianna Riling war einmal so ein Baby auf Entzug. Die Elfjährige wächst mit ihren zwei Brüdern von Geburt an bei den Großeltern auf, die mit 70 Jahren für drei Teenager verantwortlich sind. Kein Sonderfall in West Virginia: Die eigentliche Elterngeneration fällt oft aus - wegen Drogensucht, die mit angeblich harmlosen Schmerzmitteln begann.
"In der Kindergartengruppe sind damals acht Elternteile an Opioiden gestorben", erzählt Großmutter Beverly Riling, deren Sohn wegen Rückenschmerzen erstmals zu Pillen griff und nie wieder von ihnen loskam. Wie die meisten wechselte er irgendwann zu Heroin.
Im Namen ihrer verwaisten Enkel klagt Riling jetzt mit beim großen Opioid-Prozess in Cleveland im Bundesstaat Ohio, bei dem sich die Pharma-Konzerne ihrer Verantwortung stellen sollen. "Die Hersteller haben gesagt, diese Medikamente seien vollkommen sicher, dabei müssen sie von der Suchtgefahr gewusst haben", erklärt Anwalt Booth Goodwin. Er hält auch die Großhändler für mitschuldig: "In West Virginia wurden kleine Orte mit Millionen von Pillen quasi überflutet. Da sind massive Warnsignale ignoriert worden."
Riling sagt unter Tränen, dass es ihr nicht um Geld gehe, sondern um Gerechtigkeit: "Als Polizei-Sekretärin haben mich so viele Eltern gebeten, ihnen mit ihren drogenabhängigen Kindern zu helfen. Aber ich konnte doch noch nicht mal meinen eigenen Sohn retten. Mit diesem Prozess haben wir die Chance, vielleicht anderen Kindern noch helfen zu können."
In den USA sind Zehntausende Menschen durch opioidhaltige Schmerzmittel süchtig geworden. Später wechselten sie meist zu Heroin und Fentanyl. 2017 wurde in den USA der nationale Notstand erklärt: In dem Jahr starben dort 47.000 Menschen an Opioiden, umgerechnet 130 pro Tag.
Am 21. Oktober beginnt in Cleveland im Bundesstaat Ohio ein Modell-Zivilprozeß gegen mehrere Pharma-Konzerne und Großhändler, bei dem mehr als 2000 Klagen gebündelt werden. Den Unternehmen wird vorgeworfen, die Suchtgefahr der Schmerzpillen bewusst verschleiert und die Medikamente aus Gewinnstreben aggressiv vermarktet zu haben.
Die klagenden Städte, Gemeinden und Bundesstaaten hoffen auf hohe Entschädigungssummen, um die Krise in den Griff zu bekommen. Laut einer Schätzung der Klägerseite belaufen sich die Folgekosten der Epidemie auf 453 Milliarden Dollar im kommenden Jahrzehnt. Verschiedene Hersteller haben bereits Vergleiche geschlossen, um Gerichtsverfahren zu entgehen.
80 Prozent der Heroin-Abhängigen in Amerika sind laut US-Gesundheitsministerium durch opioidhaltige Schmerzmittel süchtig geworden. Die Opioid-Krise verändert ganze Gemeinden: Das kleine Huntington galt zwischenzeitlich als Hauptstadt der Überdosis-Toten, die an allen öffentlichen Orten kollabierten. Deswegen gibt es im dortigen Gesundheitsamt fast täglich einen ganz besonderen Erste-Hilfe-Kurs: Normale Bürger lernen hier, das Gegenmittel Naloxon bei sich zu tragen - und im Ernstfall mit einer Fertiginjektion Leben zu retten.
Täglicher Kampf gegen die Tragödie
"Es kann überall passieren: an der Tankstelle, in der Bibliothek", sagt Teilnehmer Eli Bone, ein angehender Krankenpfleger. "Vielleicht bist du der einzige, der rechtzeitig da ist und jemandem helfen kann."
Arzt Kilkenny: "Vergleichbar mit pandemischer Grippe von 1918"
Der Arzt Michael Kilkenny kämpft jeden Tag gegen die Drogentragödie in seiner Stadt, traumatisiert und tapfer zugleich. "Das ist die Plage unserer Generation, höchstens vergleichbar mit der pandemischen Grippe von 1918", so der ärztliche Leiter des Gesundheitsamts in Huntington.
"Kinder haben Schlimmes erlebt, ganze Familien müssen heilen. Es wird noch Jahrzehnte dauern, bis wir wieder eine gesunde Gemeinschaft sind", sagt der oberste Arzt der Stadt fast unter Tränen. Und verabschiedet sich mit einer Warnung: "So etwas darf nie wieder irgendwo passieren. Die Schmerzmittel-Hersteller suchen neue Märkte!"